"Eventin" vor Rügen beschlagnahmt: Experte sieht "erhebliche Eskalation"
Mit der Beschlagnahmung des Schattenflotte-Tankers "Eventin" in der Ostsee vor Rügen "überspringt" Deutschland mehrere Eskalationsstufen, meint ein Sanktionsexperte. Derweil wachsen Sorgen vor einer möglichen russischen Reaktion. Was mit Schiff und Ladung geschieht, ist noch unklar.
Seit mehr als zwei Monaten liegt die "Eventin" vor Sassnitz vor Anker. Der Tanker war nach einem totalen Blackout vor Rügen dorthin geschleppt und von den deutschen Behörden festgesetzt worden. Später wurden Schiff und Fracht vom deutschen Zoll beschlagnahmt und nun auch die Besatzung ausgewechselt, wie das Bundesfinanzministerium am Freitagabend mitteilte. Außerdem stets in Sichtweite: ein Schiff der Bundespolizei zur See. Hin und wieder ist es im Pendelverkehr zwischen Hafenkante und dem gut 270 Meter langen Schiff zu beobachten.
Das Bundesfinanzministerium hat einen Crewwechsel auf der "Eventin" vorgenommen und damit auch die Kontrolle über Schiff und Ladung erlangt, so die Mitteilung aus Berlin. Damit hat die Bundesrepublik nun auch eine Sicherungspflicht und ist als Eigentümerin komplett verantwortlich für das Schiff. Ob der Tanker wieder voll seetüchtig ist, dass er beispielsweise Wilhelmshaven aus eigener Kraft erreichen könnte, ist unsicher. Das wird vermutlich gerade geprüft und die neue Crew muss sich erst mal mit allem vertraut machen.
Experte: Nicht ganz klare Rechtslage
Der Sanktionsexperte Sascha Lohmann von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) bezeichnete die Beschlagnahmung des Schattenflotte-Tankers "Eventin" gegenüber dem NDR in MV als "erhebliche Eskalation". "Überraschend ist, dass die Bundesregierung das Risiko eingeht, dies auf nicht ganz klarer Rechtslage zu tun."
Die bisherigen Eigentümer der Ladung oder des Tankers könnten möglicherweise rechtliche Maßnahmen einleiten. Offenbar ist laut Lohmann Grund der Beschlagnahmung die verbotene Einfuhr von russischem Öl. Doch ob man das Schleppen des mit Motorschaden havarierten Tankers im Januar dieses Jahres in deutsche Hoheitsgewässer als Einfuhrvorgang bewerten kann, sei nicht sicher.
Experte: Bundesregierung überspringt Eskalationsstufen
Die Beschlagnahmung sei mit "politischem Risiko" verbunden, so der Sanktionsexperte. "Man überspringt Eskalationsstufen." So hätte man zunächst auch Dienstleistungsverbote für Schattenflotten-Schiffe durchsetzen können anstatt dieses "Beinahe-Ultima-Ratio-Schrittes". Zudem könnte Russland diesen Fall propagandistisch ausschlachten, meint Lohmann.
Für den Experten betritt die Bundesregierung weitgehend rechtliches Neuland im Sanktionsbereich. Einen vergleichbaren Fall habe es vor Jahren gegeben, als die USA auf ähnliche Weise Öllieferungen des Iran unterbunden haben.
"Das Öl könnte zu Geld gemacht werden"
Nun gehe es vermutlich zunächst darum, einen Dienstleister zu finden, der das Öl von der "Eventin" abpumpt. Die Variante Umpumpen auf See müsste gründlich vorbereitet werden, weil es sich um Schweröl handelt, das erwärmt werden muss. Entweder befindet sich die dafür notwendige Ausrüstung an Bord oder es müssen Pumpen und entsprechende Systeme zum Erwärmen des Öls auf die "Eventin" geschafft werden.
Eine Ölsperre, die eventuellen Verunreinigungen der Küste vorbeugt, wäre auch gut. Zudem muss für den Vorgang relativ ruhige See herrschen. Danach könnte es eine Auktion geben. "Das Öl könnte zu Geld gemacht werden", so Lohmann. Der Wert der knapp 100.000 Tonnen Öl an Bord der "Eventin" wird auf 40 Millionen Euro geschätzt.
Die Beschlagnahmung wertet Lohmann zudem als indirektes Eingeständnis, dass der von der EU verhängte Ölpreisdeckel nicht nur wie gewünscht zu wirken scheint. Denn im Ergebnis habe der Ölpreisdeckel dazu geführt, dass die Zahl der Schiffe der russischen Schattenflotte immer größer statt kleiner wurde.
"Der Ölpreisdeckel hat auch dafür gesorgt, dass Ausfuhren an russischem Öl mit höheren Risiken für Schifffahrt und Umwelt einhergehen." Sascha Lohmann, SWP
Enormer russischer Öl-Export über die Ostsee
Trotz der Sanktionen gelingt es Russland, enorme Mengen an Öl zu exportieren. Der ukrainische Thinktank KSE Institute geht in seiner Prognose für 2024 von russischen Einnahmen durch Öl in Höhe von 193 Milliarden US-Dollar aus. Gerade die russische Öl-Ausfuhr über die Ostsee hat sich seit 2022 massiv erhöht. Laut manchen Schätzungen läuft mittlerweile rund ein Drittel des gesamten russischen Ölexports über die Ostsee. Die Erlöse leisten einen wichtigen Beitrag zur Finanzierung des kostspieligen russischen Abnutzungskrieges in der Ukraine.
Härtere Gangart gegen russische Schattenflotte
Wie der NDR aus Sicherheitskreisen erfuhr, dürfte die Beschlagnahmung des Schiffes auch auf die Beschlüsse des NATO-Ostsee-Gipfels im Januar in Helsinki zurückzuführen sein. Dort hatten sich NATO- und Ostseestaaten darauf verständigt, eine wirksamere Handhabe gegen die Schattenflotte und hybride Bedrohungen Russlands im Ostseeraum zu erlangen. Mehrfach war es zu Fällen mutmaßlicher Unterwasserkabel-Sabotage gekommen.
Dabei ging es ausdrücklich auch um erweiterte rechtliche Möglichkeiten. Weitere Maßnahmen sollen in naher Zukunft im Rahmen der G7 sowie beim NATO-Gipfel im Sommer verkündet werden. Zuvor hatten NATO- und Ostseeanrainerstaaten bereits die Präsenz ihrer Marineschiffe erhöht und unter anderem die Mission "Baltic Sentry" gestartet.
Sorge vor hybriden Angriffen in Ostsee
Die Beschlagnahmung sei ein deutliches Signal, sagte eine mit den Vorgängen vertraute Person, die ungenannt bleiben will, dem NDR. Das Innen-, das Verkehrs- und das Finanzministerium, das Auswärtige Amt, das Verteidigungsministerium sowie das Justizressort hätten sich dabei eng abgestimmt. Hinsichtlich einer möglichen russischen Reaktion sei eine Risikoabwägung vorgenommen und darauf basierend eine Entscheidung getroffen worden.
Dabei seien auch "Worst-Case-Szenarien" berücksichtigt worden. Dazu zählen offenbar Befürchtungen, dass der Tanker "Eventin" Ziel hybrider Angriffe werden und so eine Umweltkatastrophe auslösen könnte.
