Rassistischer Angriff: Psychologe vermutet "gewisse Entmenschlichung"
Im Zusammenhang mit dem rassistischen Angriff auf zwei Mädchen aus einer Familie mit ghanaischer Abstammung in Grevesmühlen vermutet ein Psychologe "eine gewisse Entmenschlichung". In der Politik wird unterdessen über eine Mitverantwortung der AfD debattiert.
Es gibt einenneuen Ermittlungsstand, den die Polizei am Montagabend bekannt gegeben hat. Zuvor haben sich zahlreiche Experten über den Zustand unserer Gesellschaft Gedanken gemacht. So könnte bei dem Vorfall mit einer Gruppe Jugendlicher und zwei Mädchen aus einer Familie ghanaischer Abstammung in Grevesmühlen "eine gewisse Entmenschlichung" eine Rolle gespielt haben. Das zumindest sagte der Psychologe Jasper Neerdaels gegenüber dem NDR. Der Greifswalder Wissenschaftler sagte am Nachmittag, aus psychologischer Sicht sei der Vorfall in Grevesmühlen "leider kein Zufall". Wenn sich Menschen aufgrund wirklicher oder gefühlter Krisen sich bedroht fühlten, zögen sie sich in ihre Gruppen zurück.
Hochschaukelnde Gruppenprozesse
Dies sei häufig gepaart mit einer starken Ablehnung gegenüber allem, was als fremd wahrgenommen werde. Falls dies - ausgelöst durch sich hochschaukelnder Gruppenprozesse - mit einer Radikalisierung einhergehe. Die Tat in Grevesmühlen sei kaum zu begreifen. "Möglicherweise spielen da auch Prozesse einer gewissen Entmenschlichung eine Rolle, dass man das, was man als fremd wahrgenommen hat, dass man das auch ein Stück weit weniger als menschlich wahrnimmt", sagte Neerdaels. Das könne "ein Stück weit enthemmen" und vielleicht erklären, "warum man solch furchtbare Taten begeht".
Experte mutmaßt Mitverantwortung der AfD
Nach der Attacke in Grevesmühlen sowie zahlreicher weiterer mutmaßlich rassistischer Vorfälle hat der Chef der Regionalagentur für demokratische Kultur in Westmecklenburg, Daniel Trepsdorf, die AfD mitverantwortlich gemacht. "Wer mit dem Feuer spielt, auch verbal - und das tun die AfD und weitere rechtsextremistische Gruppen tatsächlich insbesondere in sozialen Netzwerken - der erntet dann auch das Feuer, indem es zu gewalttätigen Ausschreitungen führt", sagte Trepsdorf dem NDR. "Und es trifft immer die vulnerabelsten, also die verletzlichsten Mitglieder unserer Gesellschaft, wie zum Beispiel jetzt diese beiden Mädchen in Grevesmühlen". Trepsdorf ist ehrenamtlich auch Mitglied der Linken in der Stadtverordnetenversammlung in Schwerin.
Koalition: AfD vergießt Krokodilstränen
Bei der Kommunalwahl am vergangenen Sonntag hat die AfD Nordwestmecklenburg 25,4 Prozent geholt und wurde wie im übrigen Land stärkste kommunalpolitische Kraft. Der AfD-Landtagsfraktionschef Nikolaus Kramer verurteilte den Angriff in Grevesmühlen "auf das Schärfste" und machte dafür die Politik der rot-roten Landesregierung verantwortlich. Noch kurz zuvor hatte seine Fraktion einen reißerischen Post abgesetzt mit dem Titel "Die Regierung lädt die ganze Welt nach Deutschland ein". Für die SPD/Linke-Koalition sagte der Linke-Landtagsabgeordnete Michael Noetzel, die AfD vergieße Krokodilstränen mit ihrer Reaktion auf Grevesmühlen. Es sei die AfD, die das Thema Migration immer wieder skandalisiere. Nach ihrem Wahlerfolg am vergangenen Sonntag gebe es offenbar einige, die sich berufen fühlten, gewalttätig zu sein .
Grevesmühlen: Neue Erkenntnisse nach rassistischem Angriff
Die Meldung über einen rassistisch motivierten Angriff auf ein achtjähriges und ein zehnjähriges Mädchen aus einer Familie ghanaischer Abstammung, hat in der Öffentlichkeit für ein breites Echo gesorgt. Am Freitagabend hatte die Polizei mitgeteilt, dass die Täter dem jüngeren Mädchen unter anderem ins Gesicht getreten hätten. In der jüngsten Verlautbarung des Polizeipräsidiums Rostock heißt es am Montagabend: "Nach derzeitigem Ermittlungsstand hat das achtjährige Mädchen keine körperlichen Verletzungen erlitten, die auf die in der Erstmeldung geschilderte Tathandlung hindeuten."
Mit ausgestrecktem Bein den Weg versperrt
Stattdessen wird nun folgendes Szenario beschrieben: Die Achtjährige wollte mit ihrem Roller an einem Jugendlichen vorbei fahren. Dieser habe dem Mädchen mit ausgestrecktem Bein den Weg versperrt und sie dabei mit der Fußspitze getroffen. Zu diesem Zeitpunkt habe sich eine größere Gruppe Jugendlicher in dem Bereich aufgehalten. In der Meldung der Polizei heißt es weiter, dass sich die Kinder daraufhin verängstigt und weinend an ihre Eltern gewandt hätten. Als diese die Jugendlichen zur Rede stellen wollten, sei es zu einer verbalen und auch körperlichen Auseinandersetzung gekommen. Dabei seien auch rassistische Äußerungen gefallen. Videosequenzen dieser Auseinandersetzung wurden bereits in den sozialen Medien geteilt.
Auf der Schlossbrücke Hitlergruß gezeigt
Am Wochenende gab es in Mecklenburg-Vorpommern weitere volksverhetzende beziehungsweise rassistische Vorfälle. In Schwerin versammelten sich am Sonnabend - so der Hinweis einer Zeugin gegenüber der Polizei - etwa 20 Personen auf der Schlossbrücke und zeigten oberkörperfrei den Hitlergruß. Eine zu der Gruppe gehörende Frau soll Aufnahmen davon gemacht haben. Die Polizei sucht Zeugen.
Vor Angriff in Penkun: Fremdenfeindliche Parolen
In Penkun bei Pasewalk (Vorpommern-Greifswald) sollen während einer Veranstaltung auf dem Festgelände in der Nacht zu Sonnabend rund sieben Personen einen 24-jährigen Deutschen geschlagen haben, der laut Polizei "ein südländisches Aussehen" hat. Der junge Mann wurde im Gesicht verletzt und meldete sich selbst per Notruf bei der Polizei. Der den Angaben nach stark alkoholisierte 24-Jährige konnte keine weiteren Angaben machen. Er sei von Rettungskräften medizinisch versorgt worden und dann mit seiner Begleiterin nach Hause gegangen. Die 23-Jährige habe am folgenden Abend die Polizei darüber informiert, dass die Verletzungen ihres Freundes schwerwiegender seien als zunächst angenommen und er mit Brüchen an Fingern und Nase im Krankenhaus liege.
Polizei spricht Platzverweise aus
Sie berichtete außerdem, dass bei dem Fest in der vorhergehenden Nacht einige Personen den Text "Ausländer raus - Deutschland den Deutschen" zu dem Lied "L'Amour toujours" gesungen hätten. Die Polizei schließt einen Zusammenhang des Angriffs mit dem Grölen der Parolen nicht aus. Auch hier sucht die Polizei Zeugen. Außerdem soll ein 19-Jähriger am Sonntag auf dem Güstrower Stadtfest zum Lied "L'amour toujours" verfassungsfeindliche Parolen skandiert haben. Dem Deutschen sei ein Platzverweis ausgesprochen worden, teilte die Polizeiinspektion am Montag mit.
Eskalierende rechtsmotivierte Gewalt in MV
Rassistische und verfassungswidrige Parolen hatten bereits am Freitag nach dem EM-Auftaktspiel einen Großeinsatz der Polizei in Rostock-Warnemünde ausgelöst. Dabei kam es auch zu Angriffen auf Polizisten. Unter anderem sollen drei Männer auf dem Bahnhofsvorplatz "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus" gebrüllt und einem Passanten Schläge angedroht haben. Außerdem sollen zur gleichen Zeit eine 15-Jährige dieselbe Parole auf dem Bahnhof herumgebrüllt und ein 26-jähriger Mann den Hitlergruß gezeigt und gerufen haben. Auch in Neubrandenburg sollen am Freitagnachmittagetwa 15 Unbekannte nationalsozialistische Parolen gerufen haben.
Verantwortung bei Schule und Medien
Demokratische Lücken werden laut der Politikwissenschaftlerin Dr. Gudrun Heinrich schon in der Schule gerissen. "Diese Verantwortung haben wir alle. Die Verantwortung haben, Politikerinnen und Politiker in besonderem Maße aber natürlich auch die Medien und die Schule. Aber ich glaube, dass die Art und Weise, wie wir über strittige Fragen in der Gesellschaft sprechen und wie wir über Menschen sprechen, ein ganz wesentlicher Punkt ist, der uns herausfordert. Wir brauchen in der Schule Räume für Diskussion, für Auseinandersetzung, für Demokratiebildung."
Innenminister appeliert an Gesellschaft
Rassistische Anfeindungen sollen laut Innenminister Christian Pegel (SPD) durch einen gesellschaftlichen Konsens verhindert werden. "Die Polizei wird nicht an jeder Straßenecke stehen können. Wir werden nicht in jedem Park und an jeder Parkbank sein können. Sondern wir brauchen erstens ein klares Bewusstsein, dass wir das nicht wollen. Und wir haben als Eltern gemeinsame Verantwortung. Dazu kommt zweitens: wir brauchen eine Gesellschaft die auch mal Einschreitet."
Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels war die Rede von zwei Mädchen aus Ghana. Richtig ist, dass die attackierte Familie in Grevesmühlen lebt und ghanaischer Abstammung ist. Wir haben die entsprechenden Passagen korrigiert.