Letzte Gnadenfrist für die Nord Stream 2 AG
Die allerletzte Gnadenfrist von Nord Stream 2 läuft am 10. Januar 2025 ab. Ursprünglich sollte das 9,5-Milliarden-Euro-Projekt russisches Gas nach Mitteleuropa liefern. Nach Sanktionen und dem Rückzug der westeuropäischen Investoren infolge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine entscheidet nun ein Schweizer Gericht über die Zukunft der Pipeline-AG.
Die Nord Stream 2-Pipeline: Milliardenschwere Werte liegen seit dem Jahr 2022 ungenutzt auf dem Grund der Ostsee. Was mit den 200.000 Röhren und den Landanlagen passiert, ist weiter unklar und hängt auch davon ab, wie das Gericht im schweizerischen Kanton Zug entscheidet. Dort sitzt die Betreibergesellschaft von Nord Stream 2, die dem russischen Staatskonzern Gazprom gehört.
Pipeline kostete zehn Milliarden Euro
Mit Kriegsbeginn verlor die Nord Stream 2 AG ihre Geschäftsgrundlage. Die fast zehn Milliarden Euro teure Pipeline ging nie in Betrieb, sie ist seitdem eine Investitionsruine. Die Betreibergesellschaft, die Nord Stream 2 AG, ist überschuldet. Ein Nachlassverfahren, das dem Unternehmen grundsätzlich die Möglichkeit der Restrukturierung und außergerichtlichen Einigung mit den Gläubigern ermöglicht, wurde vom zuständigen Kantonsgericht mehrfach verlängert.
Am Freitag waren am Zuger Kantonsgericht Gläubiger und Vertreter der Nord Stream 2 AG geladen. Es geht um einen Nachlassvertrag, oder anders formuliert: darum, dass die Gläubiger der Nord Stream 2 AG abgefunden werden. Für einen entsprechenden Vertrag fehlen noch Unterschriften, wie der Richter erklärte. Damit bleibt der Nord Stream 2 AG nun noch eine Gnadenfrist bis zum 10. Januar 2025. Wenn es dann keine Einigung gibt, wird das Unternehmen zwangsweise in den Konkurs geschickt.
Wie geht es weiter mit den Röhren?
Der 1.200 Kilometer lange Doppelstrang der Nord Stream 2 ist der große Vermögenswert der Gesellschaft. Die Pipeline, die 55 Milliarden Kubikmeter russisches Erdgas pro Jahr zum deutschen Anlandepunkt Lubmin transportieren sollte, ist zum geopolitischen Streitobjekt geworden. Deutschland hatte unter den zunehmenden Spannungen des Westens mit Russland im Februar 2022 die laufende Zertifizierung ausgesetzt. Kurz darauf überfiel Russland die Ukraine.
Der russische Gasriese Gazprom war - und ist noch immer - Gesellschafter der Nord Stream 2 AG. Fünf große westeuropäische Energiekonzerne hatten aber seinerzeit die Hälfte der Gesamtbaukosten in Höhe von 9,5 Milliarden Euro anteilig übernommen: OMV, Uniper, Wintershall Dea, Shell und Engie. Sie haben die Ausgaben in ihren Büchern von jeweils etwa einer Milliarde Euro abgeschrieben. Sie sind Gläubiger.
Konkursverfahren könnte vermieden werden
Unter dem vom Gericht eingesetzten Sachwalter Transliq unterbreitete die Nord Stream 2 AG den Gläubigern einen Vergleichsvertrag zur Abstimmung. "Wir haben den Bericht des Sachwalters der Nord Stream AG, Transliq, zum Stand dieser Abstimmung zur Kenntnis genommen", heißt es auf NDR Anfrage gleichlautend von Uniper und Wintershall Dea. Der Ausgang des Verfahrens hänge jetzt von der Entscheidung des zuständigen Insolvenzgerichts ab. Transliq äußert sich nicht zu dem Verfahren. Stimmt das Gericht dem Vergleichsvertrag zu, dessen Inhalt derzeit öffentlich nicht bekannt ist, kann ein Konkursverfahren vermieden werden. Eine Richtungsentscheidung also, ob, wie und durch wen die Pipeline künftig genutzt werden kann.
Die Pipeline als geostrategisches Instrument
Eine Energie-Ader - quer durch die Ostsee von Russland nach Deutschland. Das weckt Begehrlichkeiten. Im November berichtete das "Wall Street Journal", dass sich ein amerikanischer Investor und Trump-Unterstützer an einer möglichen Versteigerung beteiligen möchte. Demnach hat der Geschäftsmann Stephen Lynch bei der US-Regierung die Erlaubnis beantragt, bei einer möglichen Auktion in der Schweiz mitzubieten - eine Chance, die Energieversorgung unter amerikanische und europäische Kontrolle zu bringen.
So oder so, ein Investor müsste Gazprom dazu bewegen, zu kooperieren, weil die Leitung eben nicht irgendwo, sondern in Russland beginnt. Außerdem fehlt die Zertifikation und da können alle Ostseeanrainer mitreden, durch deren Außenwirtschaftszone die Leitung verläuft. In Skandinavien, dem Baltikum und Polen ist der Wille, in naher Zukunft energiepolitisch wieder mit Russland zu kooperieren, nahezu null.
Russisches Gas oder finnischer Wasserstoff?
Denkbar wäre allerdings auch noch ein anderes Szenario: die Leitung könnte für den Wasserstofftransport umgerüstet werden und das Pipeline-Rückgrat eines Wasserstoffnetzes durch die Ostsee bilden. Das würde in Südwestfinnland beginnen und über die Ålandinseln, an Gotland und Bornholm vorbei bis nach Vorpommern führen. Die EU schätzt den Bedarf für klimaneutralen Wasserstoff im Jahre 2050 auf bis zu 2.000 Terrawattstunden. Eine Studie der Zertifizierungsgesellschaft DNV (Det Norske Veritas) sieht besonders großes Wasserstoff-Potential bei den Offshore Windparks in der Ostsee und in Finnland. Durch den hohen Anteil an erneuerbarem Strom sind die Produktionskosten in dem skandinavischen Land besonders niedrig. Aber noch immer fehlt ein tragfähiges Geschäftsmodell für den großflächigen Einsatz von Wasserstoff in der Industrie. Hinzu kommt: Auch eine Wasserstoffpipeline wäre anfällig für Sabotageakte.
Denkbar ist auch, den jetzigen Status quo mit einer zerstörten und ungenutzten Leitung so lange zu halten, bis sich die geopolitischen Spannungen in Europa abgebaut haben. Politisch derzeit absolut unvorstellbar, wäre dieses Szenario wirtschaftlich durchaus attraktiv, weil russisches Pipelinegas im Vergleich zu LNG aus Übersee und Erdgas aus Norwegen günstig ist.
Reparatur nicht nur eine Frage des Preises
Neben den kaum überwindbaren politischen Hürden gibt es auch noch ganz praktische Herausforderungen bei einer möglichen Nachnutzung von Nord Stream 2. Experten aus der Pipelinebranche gehen davon aus, dass sich die im September 2022 durch Sprengungen beschädigten drei Stränge der beiden Nord-Stream-Pipelines reparieren lassen.
Dazu bräuchte es Spezialschiffe - und vor allem hochspezialisiertes Fachpersonal. Das müsste die durch die Explosionen strukturell geschädigten Abschnitte zunächst identifizieren und abtrennen. Neue Rohrsegmente müssten eingefügt und der aufgewühlte Meeresboden wieder planiert werden, so ein Experte gegenüber dem NDR, der anonym bleiben möchte. Den Zeitaufwand pro Reparaturstelle schätzt er auf drei bis fünf Monate. Knackpunkt könnten seiner Einschätzung nach die sogenannten Omega-Loops werden. Das sind Rohrschleifen an den Reparaturstellen, die Spannungen in den Rohren ausgleichen. Reichen diese außerhalb des ursprünglich genehmigten Pipeline-Korridors, könnte ein ganz neues Genehmigungsverfahren notwendig werden. Auch deshalb sind die Kosten einer Reparatur oder eines Umbaus kaum zu kalkulieren. Die Schätzungen reichen von mehreren Hundert Millionen Euro bis über eine Milliarde Euro.
Ende des juristischen Tauziehens unklar
Aber zunächst muss geklärt werden, ob Nord Stream 2 dem drohenden Konkurs doch noch in letzter Minute entkommen kann. Wie das juristische Tauziehen ausgeht, ist unsicher. Sehr wahrscheinlich hingegen ist: Die 200.000 verschweißten Röhren aus Spezialstahl werden vermutlich noch lange Zeit ungenutzt auf dem Grund der Ostsee liegen, jedenfalls solange Russland seinen Eroberungskrieg in der Ukraine weiterführt. Der Gasmarkt-Experte Heiko Lohmann von Energate glaubt nicht, dass die Nord-Stream-2-Pipeline jemals wieder russisches Gas nach Lubmin liefern wird. Seiner Ansicht nach reichen die Kapazitäten der Landleitungen aus und zudem würden die Ukraine und Polen alles tun, um zu verhindern, dass russisches Gas nach Mitteleuropa strömt, ohne dass sie davon profitieren.