"Letzte Generation": Legitimer Protest oder Straftat?
Der Schauspieler Raúl Semmler hat in dieser Woche als erster Aktivist der "Letzten Generation" im Nordosten eine Haftstrafe verbüßt. Gerichte könnten bald die Frage zu klären haben, ob die Organisation eine kriminelle Vereinigung darstellt.
Raúl Semmler tritt aus dem Gefängnis in Bützow wie auf eine Bühne. Wieder mal. Als Schauspieler ist er es gewohnt, dass sich Kameras auf ihn richten. Doch das Setting hat sich für ihn in den vergangenen 18 Monaten stark verändert. Semmler ist 38 Jahre alt, er lebt in Mannheim, bekannt wurde er unter anderem als Valentinus in Sönke Wortmanns Historiendrama "Die Päpstin" oder durch Serien-Auftritte bei "Ein Fall für Zwei" und "SoKo Leipzig". Heute ist er vor allem bekannt als Aktivist der Klimaschutzbewegung "Letzte Generation". Seine Karriere hat er dem Protest geopfert, sagt er. Dass er dafür inhaftiert wurde, macht ihn wütend.
"Dass diese Chefs, die jahrzehntelang unsere Erde ausgequetscht haben, Millionengewinne gemacht haben mit ihren Konzernen, dass die einfach straffrei davonkommen. Das geht schwierig in meinen Kopf." Raúl Semmler, Schauspieler
Haftstrafe für Pipeline-Blockade
Im Frühjahr 2022 hatten Semmler und andere Aktivisten mehrfach Pumpstationen der brandenburgischen Erdölraffinerie PCK in Mecklenburg-Vorpommern blockiert. Dabei drehten sie auch Ventile der Anlage zu. Semmler veröffentlichte Fotos davon. Die Raffinerie PCK klagte auf Unterlassung und auch gegen die Veröffentlichung der Fotos. Im Oktober 2022 bekam das Unternehmen vor dem Landgericht Neubrandenburg Recht. Semmler blieb die Wahl: 1.500 Euro Strafe oder drei Tage Haft in Bützow.
Meinungen gehen auseinander
Die Öffentlichkeit scheint sich momentan uneinig zu sein, welche Rolle Aktivisten wie Raúl Semmler gegenwärtig zukommt. Sind sie Helden, die sich friedlich gegen den Staat stellen, um die Regierung zur Einhaltung der eigenen Gesetze, also zu mehr Klimaschutz zu bewegen und dafür sogar Haft riskieren? Oder sind sie Straftäter, die immer wieder Gesetze brechen und in Kauf nehmen, dass auch Menschen gefährdet werden? Muss der Rechtsstaat durchgreifen mit Razzien, Überwachung und Strafverfolgung wie bei Schwerkriminellen? Oder ist vielmehr Verhältnismäßigkeit geboten, da von der "Letzten Generation" keine Gefahr ausgeht?
§129 Bildung krimineller Vereinigungen
Auch Staatsanwaltschaften verschiedener Bundesländer prüfen diese Fragen momentan. Dabei geht es unter anderem um Paragraf 129 im Strafgesetzbuch. Danach ist eine kriminelle Vereinigung eine Organisation von mehr als zwei Personen, die das primäre Ziel hat, systematisch Straftaten zu begehen. Das Strafmaß dieser Straftaten muss bei mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe liegen. Normalerweise wird der Verdacht auf eine kriminelle Vereinigung von den Staatsanwaltschaften dafür genutzt, bereits im Vorfeld das sogenannte große Besteck der Strafprozessordnung zur Verfügung zu haben, um mafiöse oder terroristische Gruppen überwachen und stoppen zu können.
Gerichte haben viel zu klären
Die Rechtslage ist in diesem Fall aber alles andere als eindeutig. Deshalb haben die Gerichte womöglich bald viel zu tun. Klärungsbedürftig ist zum Beispiel, ob es tatsächlich das primäre Ziel der "Letzten Generation" darstellt, Straftaten zu begehen. Oder ob die Straftat nicht viel mehr eine untergeordnete Rolle bei der Verfolgung eines anderen Zweckes spielt, nämlich des Klimaschutzes. Auch die Frage nach der Verhältnismäßigkeit wird in diesem Zusammenhang wichtig werden. Der Protest verläuft nach eigenen Angaben friedlich und gewaltfrei. Ist es daher verhältnismäßig, einen Paragrafen, der sich eigentlich gegen organisierte Kriminalität richtet, auch bei der "Letzten Generation" heranzuziehen?
Raúl Semmler wird auf das Urteil der Gerichte nicht warten. Er hat sich an unzähligen Protesten in der Vergangenheit beteiligt. Zwei Mal musste er dafür bereits in Haft. Für ihn ist trotzdem klar, dass er weitermachen wird. Genau wie viele andere Aktivisten der "Letzten Generation" auch. Gesellschaft, Politik und Justiz werden Antworten darauf finden müssen, wie sie damit umgehen wollen.