Ein Märchen zum Fühlen: Grundschüler gestalten ein Buch für Blinde
Eine Klasse der Grundschule "Käthe Kollwitz" in Waren hat ein Märchenbuch für Kinder mit Sehbeeinträchtigung geschrieben und die Handlung mit fühlbaren Bildern gestaltet. "Mission Schatztruhe" heißt ihr Werk.
Eine dunkelbraune verzierte Kiste steht auf dem Boden. Rund um die Kiste sitzen sie alle im Kreis: die Kinder der Klasse 2a und ihre 26-jährige Klassenlehrerin Lara Sophie Fuchs. Die geheimnisvolle Kiste soll ihnen noch einmal in Erinnerung rufen, wie sie ihr besonderes Märchenbuch erarbeitet haben. "Es war schwer, sich zu entscheiden, was man für Materialien nimmt", erzählt der achtjährige Lenny. "Es war auch schwer, sich Sätze auszudenken und dann die passenden Bilder dazu zu gestalten", ergänzt Hannah. Die achtjährige Zoé dagegen fand es schwierig, den Kleber aus der Tube zu bekommen.
Von Blindenschrift inspiriert
Behutsam blättert Nicklas die erste Seite des Buches auf. "Mission Schatztruhe" steht dort in großen Buchstaben, geklebt aus vielen farbigen Mosaiksteinen. Dabei haben sich die Kinder von der Blindenschrift inspirieren lassen. "Sie haben gelernt, dass die Blindenschrift aus Punkten besteht und dadurch haben sie sich gedacht, dann versuchen wir mal so, über Punkte, über Mosaiksteine, die Buchstaben anders darzustellen", sagt Lara Sophie Fuchs.
Ein sehbeeinträchtigtes Kind in der Klasse
Entstanden ist die Idee, weil die Kinder der Klasse 2a das Thema Sehbeeinträchtigung kennen. Nicklas ist sehbeeinträchtigt. Seine Mitschüler seien sehr daran interessiert, zu erfahren, wie er lebt und wie er sehen kann, erzählt die Klassenlehrerin. So entstand zunächst ein Projekttag zum Thema "Sehen". Dabei setzten die Kinder Simulationsbrillen auf, durch die man schlechter sehen kann. Damit sollten sie etwa Bilder ausmalen oder einen Cent auf dem Boden finden. Auch Blindenbücher sahen sie sich an. "Ich fand die Bücher interessant. Ich habe das erste Mal Blindenschrift angefasst", sagt Neele. "Mir hat gefallen, dass man mal so spüren konnte, was die Blinden machen müssen. Die können die Bilder ja nicht richtig sehen", beschreibt Flo. Da habe sie herausgefunden, dass das anstrengend für die Blinden ist. "Ich finde es auch cool, wie die Blinden das so ertasten können, welcher Buchstabe das jetzt so ist", sagt Hannah.
23 Kinder und jedes schreibt einen Satz
Nach dem Projekttag waren die Kinder so begeistert, dass sie selbst ein Buch mit Fühlbildern erschaffen wollten. Da Märchen im Dezember ohnehin im Deutschunterricht Thema waren, fiel die Wahl schnell auf dieses Genre. So etwas mit einer ganzen Klasse anzugehen, sei schon eine Herausforderung, erzählt Lara Sophie Fuchs. "Man braucht viele Gedanken vorher, man muss viel planen vorher und ich wollte den Kindern die Möglichkeit geben, dass jeder sich einbringen kann." Das hieß konkret, dass 23 Kinder an einer Geschichte schreiben. Jeder sollte sich einen Satz ausdenken und dazu eine passende Buchseite gestalten.
Ein Märchenwürfel liefert die Zutaten
Am Anfang hilft ihnen ein Märchenwürfel, auf dem Bilder zu sehen sind. Damit erwürfeln sie sich die ersten Bestandteile für ihre Geschichte, etwa eine Waage, eine Schnecke und eine Schatzkiste. Zu jedem Element denken sie sich einen Satz aus. "Die mussten zueinander passen", erklärt Lenny. "Und dann haben wir daraus eine Geschichte gemacht." Das Märchen erzählt von einer Schnecke, die eine Schatztruhe entdeckt. Vom Gold in der Truhe fühlt sie sich angelockt. Doch durch ein Missgeschick mit einem Zaubertrank löst sich die Schatztruhe auf.
Gut erfühlbare Bilder
In mehreren Deutschstunden kreieren sie schließlich das ganze Buch. Links steht jeweils der Text, einmal in Schreibschrift und einmal in Blindenschrift. Auf der rechten Seite lässt sich die Handlung nachfühlen. Benutzt haben die Kinder Bastelmaterial wie Moosgummi, Stoffe, Pfeifenputzer und Strohhalme. Wenn man Papier nutzt, sei das schwer zu erkennen, sagt Nicklas. "Papier ist ja weniger als einen Millimeter hoch." Darum habe er die Schatzkiste auf seiner Fühlseite noch mit goldenem Glitzerband umrandet.
Ein blindes Kind testet das Buch
Ein dickes Buch ist es geworden. Inzwischen haben die Kinder es auch von einem blinden Kind testen lassen. Der Junge geht ebenfalls in die zweite Klasse. Er sei total begeistert gewesen, berichtet Christine Jenß vom Überregionalen Förderzentrum "Sehen Mecklenburg-Vorpommern". "Er fand das total toll, dass sich wirklich Grundschüler für ein Projekt zusammengetan haben und ein tastbares Buch erstellt haben." Er habe jedoch auch Hinweise gegeben, was man noch verbessern könne.
Kinder für Sehbeeinträchtigung sensibilisiert
Das Projekt hat die Klasse gestärkt. Gelernt haben die Kinder auch eine Menge, sagt Lara Sophie Fuchs. "Die Kinder haben auf einmal wahrgenommen, wozu brauche ich jetzt die Wortarten, wie kann ich das schreiben und was muss ich auch beim Schreiben beachten." Für das Thema Sehbeeinträchtigung seien sie nun stärker sensibilisiert. "Auch generell in der Umwelt fiel ihnen auf einmal sehr viel auf, was sehbeeinträchtigtengerecht und blindengerecht ist", sagt die Klassenlehrerin.
Mit Ehrenamtspreis ausgezeichnet
Die Klasse 2a und ihre Lehrerin forschen weiter zum Thema Blindheit. Zur Zeit erarbeiten sie eine Ausstellung für die Stadtbibliothek in Waren. Ende Juni soll sie zu sehen sein. Gezeigt wird dann auch ihr Märchenbuch "Mission Schatztruhe". Das Projekt wird ausgezeichnet beim Ehrenamtspreis MV 2024 - Lernen durch Engagement macht Schule.