Stand der Wiedervereinigung: "Die Debatte ist intensiver geworden"
Der Soziologe Steffen Mau hat in der ausverkauften Rostocker Kunsthalle sein Buch "Ungleich vereint" vorgestellt. Mit Blick auf die Landtagswahlen ging es dabei um den Männer-Überschuss im Osten, das "Ost-Gefühl" von jungen Menschen und Gelassenheit.
Es gibt noch viel Gesprächsbedarf über Ost und West, sagt der Soziologe und gebürtige Rostocker Steffen Mau im Interview mit NDR MV. Das habe er gerade während seiner Lesereise bemerkt: "Man könnte ja sagen, das ist Geschichte, das ist irgendwie abgeschlossen, aber es scheint doch jetzt ein Stück weit wieder hervorzukommen. Die Debatte ist intensiver geworden."
AfD und Linke als "Klassensprecher" ostdeutscher Anliegen
Mau verwies auf Umfragen nach den Wahlen in Thüringen und Sachsen, in denen gefragt wurde, wer die Interessen der Ostdeutschen am besten vertrete: "Bislang war das immer die linke Partei, und jetzt führt plötzlich die AfD", stellte er fest. Die AfD habe das Thema "ein Stück weit gekapert" und politisiere es auf neue Weise, indem sie den Ost-West-Konflikt stärker betone. Themen wie Waffenlieferungen an die Ukraine, Westbindung und Europäisierung würden genutzt, um der Ost-West-Auseinandersetzung "nochmal eine neue Dynamik" zu verleihen.
Versäumnisse der etablierten Parteien
Auf die Frage nach den Versäumnissen von SPD, CDU und Grünen erklärte Mau, man habe in den 90er-Jahren gedacht, "der Osten entwickelt sich eigentlich genauso wie der Westen". Der "Aufbau Ost" sei als "Nachbau West" konzipiert worden, was sich im Parteiensystem und anderen gesellschaftlichen Bereichen gezeigt habe. Die anfänglichen Wahlerfolge der SPD und CDU in Ostdeutschland seien "eigentlich nur Scheinerfolge" gewesen. Außerdem gebe es "in Ostdeutschland generell so ein Gefühl der Nicht-Einbezogenheit in Politik und der mangelnden Selbstwirksamkeit, auch großes Misstrauen gegenüber etablierten politischen Akteuren."
Um dieses Gefühl zu überwinden, schlug Mau neue Formen von politischer Beteiligung vor: "zum Beispiel über Bürgerräte", regte er an. Diese könnten als "Anbau an unser Haus der Demokratie" dienen, seien aber kein Ersatz für die repräsentative Demokratie.
Veränderungsmüdigkeit in Ostdeutschland
Mau sprach von einer besonderen Veränderungsmüdigkeit in Ostdeutschland, die mit den "turbulenten Transformationsjahren der 90er- und auch der Nullerjahre" zusammenhänge: "Man darf nicht vergessen, in 80 Prozent der ostdeutschen Familien gab es Erfahrungen der Langzeitarbeitslosigkeit in den 90er-Jahren. Das hinterlässt Spuren." Dies habe zu einer "Festhalte-Mentalität" geführt, bei der weitere Veränderungen wie Migration, Digitalisierung oder globale Krisen abgelehnt würden.
"Ostbewusstsein" ohne DDR-Erfahrung?
Erstaunlich sei, so Mau, dass auch jüngere Menschen in Ostdeutschland ein starkes Ostbewusstsein hätten, obwohl sie die DDR gar nicht erlebt haben. Eine mögliche Erklärung sei eine "Rekulturalisierung", ähnlich wie bei migrantischen Gruppen, wo die zweite Generation stärker Herkunftsbezüge thematisiere. Bei jüngeren Menschen aus Westdeutschland spiele das Thema Ost/West aber häufig eine untergeordnete bzw. gar keine Rolle. Dieses unterschiedliche Empfinden führe gesamtdeutsch zu Missverständnissen: "Wenn die Ostdeutschen sagen, wir sind doch ein Stück weit anders, haben andere Erfahrungshorizonte, und die Westdeutschen sagen, wir wissen gar nicht, wovon ihr redet, wir sind doch alle gleich. Das ist häufig nicht besonders gut, wenn man gemeinsam Probleme anpacken möchte."
Männerüberschuss und seine Folgen
Der Osten hat in vielen Regionen mehr Männer als Frauen. "Wir haben heute Landkreise, wo wir in diesem Alter von 25 bis 35 auf 100 Frauen 135 oder 140 Männer haben", erklärte Mau. Diese Entwicklung sei seit den 90er-Jahren zu beobachten, als immer mehr junge Frauen den Osten verlassen hätten. Dies führe zu "Männerkulturen" und habe politische Auswirkungen: "Wir wissen, dass die AfD eine sehr vermännlichte Partei ist. Also das ist eigentlich ein Komplex, der sehr stark zusammengehört." Auch etwas, das bei den Landtagswahlen in Brandenburg zu sehen ist: Mehr Männer als Frauen haben ihre Stimme der AfD gegeben.
Die DDR im gesamtdeutschen Diskurs
Gerade zum 35. Jahrestags des Mauerfalls sei es notwendig, auf neue Weise über die DDR zu sprechen. "Ich glaube, das fängt jetzt auf eine neue Weise an", sagte er und verwies auf aktuelle Bücher und Debatten über und aus Ostdeutschland.
Eine fortlaufende Diskussion sei wichtig, damit "diese ostdeutsche Erfahrung, auch die DDR-Erfahrung, doch Teil einer gesamtdeutschen Erfahrung wird". Die aktuellen Wahlerfolge der AfD könnten laut Mau möglicherweise auch eine späte Nachwirkung sowohl der autoritären Strukturen in der DDR als auch der Erfahrung in der Transformationszeit sein.
Mau: "Ein bisschen mehr Gelassenheit, dass der Osten eben anders ist"
Es sei unrealistisch zu erwarten, dass der Osten sich "vollständig verwestlicht oder dem Westen anverwandelt". Es gebe kulturelle und mentalitätsmäßige Unterschiede, aber die sollten nicht im Fokus von Debatten stehen: "Manchmal denke ich, wir bräuchten auch ein bisschen mehr Gelassenheit, dass der Osten eben anders ist, kulturell, mentalitätsmäßig", so Mau. Stattdessen sollten sich politische Bemühungen auf andere Dinge konzentrieren: "Vermögensungleichheiten, Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt oder bei den Einkommen". Wichtig ist es laut Mau auch, sich um die Demokratie in Ostdeutschland zu sorgen, ohne ständig "gegen eine Ost-Identität anzuwettern".
Auf die "stille Mitte" komme es an
Aktuell sei vor allem die "stille Mitte" gefragt: "Wir hören jetzt immer die extremen und radikalisierten Ränder im öffentlichen Diskurs. Diese stille Mitte muss man mobilisieren. Die muss sich auch stärker im öffentlichen Diskurs engagieren." Wenn dies gelinge, könne sich auch die politische Situation im Osten "noch ein Stück weit anders" gestalten.