Soziologe Mau über Ost und West: "Viele Unterschiede bleiben"
Die Phantom-Grenze zwischen Ost und West sei sichtbar - nicht nur bei den Ergebnissen der letzten Europawahl, sagt der Rostocker Soziologe Steffen Mau, der gerade ein Buch zu dem Thema vorgelegt hat. Weniger Einkommen und Vermögen im Osten, aber auch weniger Vertrauen in die Institutionen, dafür mehr Unzufriedenheit, die auf die Straßen getragen wird. Woher kommt das Gefühl, abgehängt worden zu sein und die ostdeutsche Wut auf "die da oben"?
Sind wir jahrzehntelang einer Illusion nachgerannt, dass Ost und West gleich sein müssten? Ist das ein Traum, der sich eigentlich gar nicht erfüllen kann?
Steffen Mau: In gewisser Hinsicht haben wir uns da so eine Illusion zusammengezimmert, weil wir gedacht haben: Der Osten anverwandelt sich, wird dem im Westen immer ähnlicher. Und wenn das erreicht ist, dann ist auch die innere Einheit erreicht. Aber wenn man heute Bilanz zieht - und immerhin vor 35 Jahren, ist die Mauer gefallen, 34 Jahre Deutsche Einheit -, dann sieht man, dass doch viele Unterschiede bleiben und dass die sich in gewisser Weise eingenistet haben. Das ist auch nicht völlig ungewöhnlich. Wenn wir andere Weltregionen angucken - Nord- und Süditalien oder Frankreich, die regionalen Unterschiede - dann sind solche Dinge sehr hartnäckig. Da gibt es Unterschiede in den Strukturen und auch in den Mentalitäten, die über eine lange Zeit eben bleiben.
Ist das allein Ergebnis einer deutsch-deutschen Teilung über 40 Jahre oder liegen die Ursachen womöglich noch tiefer?
Mau: Die Teilung spielt eine große Rolle. Es sind eben zwei unterschiedliche Gesellschaften gewesen, die sich da herausgebildet haben. Und dann haben die sich vereint. Sie hatten ja auch schon Willy Brandt angesprochen: 'Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.' Das hatte so ein bisschen natürlich die Idee, das ist organisch und ein ganz natürlicher Prozess. Aber wenn zwei Dinge irgendwie zusammenwachsen, dann werden sie natürlich nicht einheitlich. Wenn sich ein Paar bildet, dann lösen die ihre Identitäten auch nicht auf. Wenn jemand groß und klein ist, dann treffen die sich nicht in der Mitte, sondern die bleiben groß und klein. Und so ist es im deutsch-deutschen Verhältnis in gewisser Weise auch. Also, wenn man jetzt die Vermögensungleichheit anschaut oder die Ungleichheit bei den Löhnen - auch die Wirtschaftsstruktur - sind doch große Differenzen zwischen Ost und West vorhanden. Und manche Differenzen, die verstärken sich sogar, wenn wir jetzt das Wahlverhalten anschauen bei der letzten Europawahl.
Das eine kann man messen, die wirtschaftlichen Unterschiede. Wie sieht es aus mit denen von ihnen schon angesprochenen mentalen sozialen Unterschieden? Das Wahlverhalten, wie würden Sie das Demokratieverständnis in Ostdeutschland beschreiben?
Mau: Es hat sich so etwas herausgebildet wie eine ostdeutsche Identität. Auch das haben wir in den 1990er-Jahren gar nicht geglaubt. Da dachten wir, das sei eigentlich eine Angelegenheit der wenigen, die die DDR noch erlebt haben. Und dann gibt es so was wie eine Ostalgie. Heute sieht man auch bei jüngeren Leuten oder in Fußballstadien so Rufe wie: "Ost-, Ost-, Ostdeutschland". Das ist erstmal überraschend. Im Hinblick auf die politische Kultur muss man schon sagen Ost und West sind da sehr unterschiedlich. Also die Stärke der Parteien, wie wir sie im Westen finden, auch die starke Mitgliederstruktur, das ist im Osten nicht so vorhanden. Es gibt viel mehr Wechselwähler, viel mehr Bewegung und auch eine stärkere Ansprechbarkeit für populistische Parteien wie die AfD zum Beispiel. Aber auch das Bündnis Sahra Wagenknecht ist in Ostdeutschland viel stärker. Bei den letzten Europawahlen fast immer zweistellig, in den fünf neuen Bundesländern, in den westlichen Bundesländern knapp unter fünf Prozent. Da sieht man schon sehr unterschiedliche Entwicklungen. Ich glaube, die werden sich mit den Landtagswahlen im Herbst noch mal genauer abzeichnen.
Es besteht ein großer Trotz in der ostdeutschen Gesellschaft, dass man übersehen, vernachlässigt wurde. Wie können denn die Ostdeutschen ihre Demokratie-Erfahrung nach 1989 einbringen, auf dass sie vielleicht nicht mehr als die ewigen Nörgler dargestellt werden?
Mau: Das ist ein Stück weit eine politische Entfremdung und auch eine Skepsis gegenüber den politischen Institutionen und zentralen Akteuren. Und da habe ich mich natürlich schon gefragt, wie schaffen wir es eigentlich in Ostdeutschland, Demokratie zu beleben und vielleicht auch auf die vorhandenen positiven Erfahrungen zurückzugreifen, zum Beispiel im Herbst 1989 mit den Runden Tischen und den Dialog-Formaten. Ich schlage in dem Buch vor, stärker auf Bürgerräte zu setzen. Wenn die Parteien eben gerade so schwach sind und auch bestimmte Konflikte nicht mehr regulieren können, dann wäre das eine Form, wo eben zufällig geloste Bürger aus der Mitte der Bevölkerung zusammenkommen und über politische Probleme sprechen und versuchen, Lösungen vorzuschlagen - nicht als Ersatz für die Parteiendemokratie und die vorhandenen Parlamente, sondern als Ergänzung. Ich glaube, das wäre ein Lernraum für die Demokratie. Gerade in Ostdeutschland gibt es gute Gründe, das dort verstärkt zu probieren.
Ein anderes Problem, das Sie ansprechen, sind die West-Eliten, die nach wie vor die Schalthebel der Macht auch im Osten in den Händen halten und auch dazu beitragen, dass die Ossis sich nicht selbst ermächtigen können. Braucht es eine "Ossi-Quote"?
Mau: Ich bin ein bisschen skeptisch. Ich glaube, wir haben noch ganz viele Dinge, die wir vorher machen können. Also Elitenförderung fängt ja nicht bei der Quote bei den Top-Positionen an, sondern schon vorher, indem man zum Beispiel Förderwerke hat, Stipendien vergibt, indem man vielleicht auch Netzwerke gründet. Da ist jetzt schon was passiert und auch unterwegs. Ich hoffe, dass sich über die Zeit auch mehr ostdeutsche Eliten finden. Im Moment haben wir sie eigentlich nur im politischen System, ganz wenig in der Justiz, oder in der Wissenschaft, oder in der öffentlichen Verwaltung. Das sind alles Bereiche, wo wir genauer hingucken müssen. Da haben wir auch gedacht, da gibt es einen nachholenden Aufstieg. Und wenn die ersten Transfer-Eliten dann sozusagen in den Ruhestand gehen, dann normalisiert sich das. Aber auch das passiert nicht von allein. Da braucht man mehr politische Anstrengungen.
"Veränderungsmüdigkeit": eine Diagnose, die Sie für Ostdeutschland stellen. Wie sollen wir damit umgehen, mit einer Veränderungsmüdigkeit in einer Zeit, wo Veränderung ja per se das prägende Element unserer Zeit ist?
Mau: Das ist ein ganz großes Problem. Ostdeutschland nicht in Gänze, aber Teile der Gesellschaft, die signalisieren eben, wenn neue Veränderungen kommen oder wenn man sich umstellen muss: 'Wir wollen das nicht.' Man ist durch sehr turbulente Transformationsjahre gegangen, der 1990er- und auch der Nullerjahre und da hat es für viele auch viel Kraft gekostet, sich wieder zu etablieren und festen Boden unter den Füßen zu gewinnen. Und jetzt kommen neue Dinge: Migration, Digitalisierung, globale Prozesse, die ganze Energiefrage. Da winken dann viele Leute ab. Wenn wir Zukunft wollen, dann müssen wir uns nach wie vor umstellen. Wichtig ist für solche Transformationsprozesse, dass die Leute das Gefühl haben: Das überrollt mich nicht oder ich werde nicht vom Wandel abgehängt, sondern ich kann ihn selber mitgestalten. Und eben auch dafür wären Bürgerräte, glaube ich, eine gute Form, um Selbstwirksamkeitsgefühle zu erzeugen oder den Leuten mehr Möglichkeiten zu geben, wirklich zu partizipieren und die Dinge, die vor Ort sich verändern, mitzugestalten.
Also sehen Sie durchaus etwas Positives in den Unterschieden?
Mau: Ich würde auch nicht sagen, dass alle Unterschiede schlecht sind. Manche werden sich auch so ganz normal regionalisieren. Also von Bayern erwarten wir auch nicht, dass es so wird wie Schleswig-Holstein oder wie Niedersachsen. Einige Sachen sind relativ normal, auch dass es unterschiedliche kulturelle Lebensweisen oder unterschiedliche Erinnerungspolitik gibt. Aber bei anderen Dingen, da würden wir schon sagen: Wir wollen gleichwertige Lebensverhältnisse. Und bei der Demokratiefrage würde ich sagen, da ist es jetzt wichtig darauf zu achten, dass uns die rechtsextremen Kräfte nicht die Demokratie auf eine Art und Weise torpedieren und zerstören, dass wir dann wenig darauf aufbauen können. Von daher: Demokratische Mitwirkung ist wichtig, und das muss in der Breite der Gesellschaft stattfinden. Und wenn das über Parteien weniger gut funktioniert im Osten, dann sind Alternativen wenigstens zu denken, wenn nicht sogar auch umzusetzen.