Sozialforscher über Migration: "Chancen sind in den Hintergrund geraten"
Mehr Menschen stehen laut Umfragen Einwanderung skeptisch gegenüber. Sozialforscher Marcus Engler sieht dabei einen direkten Zusammenhang mit der aufgeheizten Debatte - und plädiert im Interview für mehr Pragmatismus.
Immer mehr Menschen in Deutschland zeigen sich laut aktuellen Umfragen skeptisch gegenüber Einwanderung. Was ist der Grund?
Marcus Engler: Ich sehe da eine eindeutige Verbindung zu den politischen und medialen Debatten der letzten Monate. Über kein anderes Thema wurde so viel berichtet, wie über Migration und Asyl - und das fast ausschließlich negativ. Es ging sehr viel um Begriffe wie Belastungsgrenze, Kontrollverlust oder Kollaps. Die Chancen, die mit Einwanderung einhergehen, sind völlig in den Hintergrund geraten. Natürlich ist das Thema wichtig - aber einige Politiker und auch Medien übertreiben es vollkommen. Andere zentrale Themen wie Klimapolitik oder Fragen sozialer Gerechtigkeit werden marginalisiert.
Warum ist das so?
Engler: Das hat viel zu tun mit dem politischen Wettbewerb, gerade vor den jüngsten Landtagswahlen. Für die AfD ist Migration traditionell das Hauptthema, aber auch die Union rückt es seit etwa einem Jahr stark in den medialen und politischen Fokus. Das ist eine gezielte politische Strategie. Die Ampel-Regierung hat es nicht geschafft, ein anderes Narrativ dagegenzusetzen, dass die Chancen und Notwendigkeit von Einwanderung hervorhebt, aber auch in humanitärer Hinsicht klare Kante zeigt. Eher im Gegenteil, innerhalb der Ampel wurde viel darüber gestritten - nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch innerhalb. Am Ende ist die Regierung den politischen Positionen der Union und auch der AfD immer mehr entgegengekommen - und hat teilweise deren Deutung übernommen. Auch auf europäischer Ebene hat sich die Bundesregierung dem Druck anderer Regierungen gebeugt.
Trotzdem klagen auch in Norddeutschland viele Kommunen, keine Menschen mehr aufnehmen zu können. Das Problem existiert ja in der Realität und nicht nur im politischen Streit.
Engler: Richtig, die Herausforderungen sind riesig, das will ich gar nicht abstreiten. Neben der Unterbringung von Geflüchteten betrifft das auch die unzureichende personelle Ausstattung etwa in Behörden, Schulen und Kitas. Aber wir müssen diese Herausforderungen annehmen und nach pragmatischen Lösungen suchen. Es ist ja Realität, dass so viele Menschen zu uns kommen. Den Kopf in den Sand zu stecken und sich eine andere Wirklichkeit zu wünschen, hilft wirklich niemandem.
Derzeit werden vor allem stärkere Grenzkontrollen, Flüchtlingsabkommen oder eine Reform des EU-Asylrechts diskutiert. Welche Maßnahmen sind aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Engler: Das sind keine Lösungen, die kurzfristig zu sinkenden Geflüchtetenzahlen führen. Nehmen wir nur einmal die Reform des EU-Asylrechts: Erstmal müssen sich alle Mitgliedsstaaten einigen, dann muss über die Reform mit dem EU-Parlament verhandelt werden. Da reden wir von bestenfalls ein oder zwei Jahren, bis das in praktische Politik umgesetzt ist. Auch Grenzkontrollen können nur wenig dazu beitragen, selbst Polizeigewerkschaften sagen, dass das wenig effektiv ist. Wer an der Grenze aufgegriffen wird, hat ja trotzdem immer noch das Recht, einen Asylantrag zu stellen.
Was schlagen Sie stattdessen vor?
Engler: Aus meiner Sicht gibt es mehrere Ansatzpunkte. Erstens muss die Politik das große Ganze viel besser erklären und für Unterstützung in der Bevölkerung werben: Was sind die Gründe für Flucht? Aber auch die Realität anerkennen: Die Menschen kommen zu uns und wir müssen sie vernünftig aufnehmen und integrieren.
Wie kann das besser gelingen als zuletzt?
Engler: Dazu müssen wir unser Aufnahmesystem verbessern. Es fängt damit an, dass der unsägliche Streit um die Aufteilung der Finanzen zwischen Bund und Ländern endlich gelöst wird. Anerkannte Flüchtlinge müssen zudem schneller aus dem Asylsystem raus und Teil der Gesellschaft werden, inklusive dem Arbeitsmarkt. Es ist daher richtig, wenn die Ampel jetzt Arbeitsverbote endlich abschaffen will. Zweitens sollte sich die Bundesregierung schon jetzt - nicht erst nach dem Ende der Verhandlungen über die EU-Asylreform - mit sehr viel Nachdruck dafür einsetzen, dass anderen EU-Staaten mehr Schutzsuchende aufnehmen. Drittens sollte sich die Regierung dafür einsetzen, dass Aufnahmestrukturen in Ländern außerhalb Europas, in denen viele Flüchtlinge leben, deutlich verbessert werden. Viertens sollten sichere Wege nach Europa endlich ausgebaut werden. Hier sollte man unterschiedliche Programme für verschiedene Gruppen von Migranten und Flüchtlingen ausbauen und auch neue Wege testen, etwa arbeitsmarktbasierte Programme für Flüchtlinge aus Erstaufnahmestaaten.
Sie haben die Arbeitsverbote angesprochen. Viele Menschen aus Syrien und Afghanistan leben auch nach Jahren in Deutschland noch von staatlichen Leistungen.
Engler: Wir haben vergleichsweise einen großzügigen Sozialstaat. Zu sagen, diese Menschen leben in großen Wohlstand, ist aber unseriös. Kaum jemand will dauerhaft am unteren Rand der Gesellschaft leben. Was man nicht vergessen darf: Menschen aus Afghanistan kommen zum Beispiel aus einem Land, das seit Jahrzehnten durch Kriege zerrüttet ist. Nur wenige konnten eine gute Ausbildung erhalten, so wie wir es für normal halten. Die Flucht ist dann oft eine kurzfristige Entscheidung und mit viel Unsicherheiten und Sorgen im neuen Land verbunden. Viele Flüchtlinge aus der Ukraine fragen sich etwa, ob sie längerfristig in Deutschland bleiben möchten und dürfen, oder sie zurückkehren werden. Wie bereits erwähnt, dürfen viele Geflüchtete schlicht monate- oder jahrelang nicht arbeiten. Auch der Zugang zu Sprachkursen und Bildungsangeboten ist oft de facto eingeschränkt. Der Wiedereinstig in den Arbeitsmarkt wird dadurch erschwert. Trotz all dieser Schwierigkeiten arbeitet ein erheblicher Teil der Flüchtlinge, Tendenz steigend.
Die oft ausgemachte Spaltung der Gesellschaft, gibt es die überhaupt?
Engler: Meinungsumfragen erwecken oft den Eindruck, als würde es nur zwei Lager geben. Ich glaube, die Stimmung in der Bevölkerung ist sehr viel differenzierter als es die sehr aufgeheizte und einseitige politische Debatte erahnen lässt. Daher würde ich nicht von einer Spaltung sprechen wollen. Grundsätzlich gab es in Deutschland in den letzten Jahren immer eine hohe Bereitschaft, Schutzsuchende aufzunehmen. In Umfragen sehen wir momentan eine wachsende Skepsis. Ein Teil der Bevölkerung in Deutschland steht Migration generell feindlich gegenüber. Es gibt aber auch sehr viele Menschen, die sich eine Flüchtlingspolitik wünschen, die Menschenrechte sehr viel konsequenter beachtet. Realität ist auch, dass sich die Aufnahmebereitschaft für unterschiedliche Gruppen von Flüchtlingen oder Migranten unterscheidet.
Was macht Ihnen Hoffnung, dass die Debatte nun wieder lösungsorientierter wird?
Engler: Die beiden Landtagswahlen in Hessen und Bayern sind vorbei. Ich hoffe sehr, dass die Politik nun wieder zu einer sachlichen Auseinandersetzung zurückkehrt. Wir brauchen wieder mehr Realismus und Pragmatismus in der Debatte - und nicht ausschließlich die negative Sicht darauf. Das könnte am Ende auch dazu beitragen, dass die Bevölkerung wieder weniger sorgenvoll und verunsichert auf das Thema schaut. Was mir mittelfristig ein wenig Hoffnung gibt, ist die Tatsache, dass Deutschland ebenso wie andere europäische Gesellschaften aufgrund des demografischen Wandels sehr stark auf Einwanderung angewiesen sind. Vielleicht setzt sich die ökonomische Vernunft wieder stärker durch.