Tiktok-Trend "Sad Tok": Experten sehen Handlungsbedarf
Im Social-Media-Netzwerk Tiktok können Kinder und Jugendliche Anerkennung finden, wenn sie Videos von "digitalen Mutproben" posten. Dieser Trend birgt aber große Gefahren. Experten fordern dazu auf, Eltern und Kindern mehr Medienkompetenz zu vermitteln. Und die Politik wendet sich an die Plattform-Betreiber.
Vergangene Woche im Hamburger Stadtteil Allermöhe: Ein Regionalzug erfasst zwei 18-jährige Schwestern - eine stirbt bei dem Unfall, die andere wird schwer verletzt. Kurze Zeit später äußert die Bundespolizei die Vermutung, dass die Zwillinge durch das soziale Netzwerk Tiktok motiviert wurden: Sie wollten womöglich an einer Challenge teilnehmen, also einer "digitalen Mutprobe".
Der erste bekannte Fall, in dem ein Kind wegen eines Tiktok-Videos gestorben ist, ging vor genau zwei Jahren durch die Presse: Eine Zehnjährige aus Italien hatte sich mit einem Gürtel zu Tode stranguliert. Seitdem gab es zahlreiche Nachahmer: Unter dem Hashtag #BlackoutChallenge halten sie so lange die Luft an, bis sie das Bewusstsein verlieren - manche sterben dabei.
Social-Media-Professorin: User umgehen oft Richtlinien der Netzwerke
In der Social-Media-App finden sich aber auch unzählige harmlose Tanz-, Comedy- und Tiervideos, die Userinnen und User hochladen. Selbstverletzendes Verhalten ist in den Tiktok-Richtlinien untersagt. Tiktok - eine der meistgenutzten Apps weltweit und vor allem bei der jüngeren Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen beliebt - verweist auf seine Statistiken zu gelöschten Videos: Allein im letzten Quartal des Jahres 2021 betraf das 85 Millionen Videos.
Die Userinnen und User seien aber sehr kreativ bei der Umgehung der Richtlinien in den Sozialen Netzwerken, berichtet Hanna Klimpe, Professorin für Social Media an der HAW Hamburg: "Es wird natürlich viel gelöscht, aber es werden auch potenziell exponentiell immer mehr Videos gepostet." Außerdem gebe es sehr schnell immer wieder neue Challenges. "Da kommt man kaum hinterher. Die Funktionsweise der Plattform müsste verlangsamt werden", meint Klimpe.
Tiktok-Algorithmus zeigt schnell viele "dunkle" Videos an
Das aber wäre sicher nicht im Sinne der Tiktok-App. Mithilfe von Algorithmen setzt sie darauf, dass die Nutzerinnen und Nutzer möglichst viel Zeit auf Tiktok verbringen. Problematisch ist das bei "dunklen" Inhalten wie etwa Suizid oder Selbstverletzung. Wer nach danach sucht, dem wird nach durchschnittlich 45 Minuten Nutzungsdauer schon jedes dritte Video zu suizidalen Inhalten angezeigt, wie Recherchen des Bayerischen Rundfunks im vergangenen Jahr ergeben haben. So könnten Userinnen und User in eine "Blase" mit solchen Inhalten geraten.
Je extremer das Video, desto mehr Reichweite bekommt es, erklärt Klimpe: "Das Versprechen von Tiktok ist ja, dass auch jemand, der nicht viele Follower hat, mit einem Video, das auf einen Trend aufspringt und das von vielen anderen Userinnen und Usern wahrgenommen wird, eben auch Viralität erlangen kann." Wenn eine Challenge laufe, sei die Wahrscheinlichkeit, dass ein Video mehr Views als ein anderes bekommt, höher, wenn es besonders extrem ist, sagt die Social-Media-Wissenschaftlerin: "Wenn man unter den vielen Videos herausstechen möchte, animiert das dazu, noch mal ein bisschen weiterzugehen als die, die es vorher schon gemacht haben."
Psychotherapeut: Im Netz fehlt "soziale Grenze" durch Freunde
Mutproben unter Jugendlichen hat es allerdings schon immer gegeben, betont der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut Heribert Krönker aus Hamburg: "Im Alter zwischen 11 und 15 ist natürlich Mut etwas ganz Wichtiges. Ich will zeigen, dass ich schon größer bin und eine Hürde nehme - und zwar die zur Erwachsenenwelt."
Durch die Verbreitungsmöglichkeiten über das Internet käme heutzutage noch das Bedürfnis nach Anerkennung und möglichst vielen Likes dazu. Allerdings fehle die soziale Einbettung in echte Beziehungen, erklärt der Therapeut: "Mutproben mit den Kumpels sind immer in einem sozialen Kontext zu sehen. Das ist etwas, was uns große Sorgen macht: Dass die Entgrenzung der Mutprobe etwas ist, wo keine Sicherheit mehr durch eine Rahmung da ist. Nämlich zu sagen: 'Oh, das ist ja gefährlich, sollte man das wirklich tun?'" Vor allem Kinder und Jugendliche mit Bindungsproblemen oder Trennungserfahrungen seien besonders anfällig für eine solche Grenzüberschreitung, so Krönker. Man kenne das auch vom Suchtverhalten: "Ausprobieren tun es ganz viele, süchtig werden aber nicht alle."
Eltern müssen sich auch mit den Apps der Kinder auseinandersetzen
Eine Konsequenz aus dem Social-Media-Boom sei, dass Eltern sich mehr mit der Lebensrealität ihrer Kinder und eben auch deren Apps auseinandersetzen müssten. Es sei sehr wichtig, dass Eltern und Kinder die nötige Medienkompetenz bekommen. "Die Begleitung der Jugendlichen in dieser Lebensphase mit ihrem Medienkonsum ist das, was zentral ist", sagt Krönker. Wichtig sei zudem, dass Kinder ein starkes Selbstwertgefühl haben, um selbst merken und entscheiden zu können, was richtig und was falsch sei.
Die Schulbehörde in Hamburg etwa plant genau das - und verweist in diesem Zusammenhang auch auf die neuen Bildungspläne. Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) fordert zudem eine generelle Debatte über die Plattform Tiktok: "Das ist eine Art von 'Digital Crack", wie es in der Fachsprache heißt, also ein richtiges Abhängigwerden. Und zwischendurch wird Werbung eingespielt, sodass die Plattform-Betreiber auch noch richtig Geld verdienen."
EU-Kommission sieht Handlungsbedarf bei Tiktok
Auch die EU-Kommission hat sich mittlerweile eingeschaltet. Sie hat die hinter Tiktok stehende Firma ByteDance aus China aufgefordert, sich verstärkt um die Einhaltung von Rechtsvorschriften zu kümmern. Passiert das nicht, drohen mit dem sogenannten Digital Service Act ab 1. September 2023 Sanktionen. Einige gefährliche Inhalte sind inzwischen über die Tiktok-Suche gesperrt worden.