Studie zu Polizeigewalt: Unterschiedliche Faktoren spielen eine Rolle

Stand: 16.05.2023 17:35 Uhr

Gewaltausübung im Amt gehört bei der Polizei zum Alltag, denn in vielen Fällen müssen Einsatzkräfte Recht und Ordnung gegen Widerstand durchsetzen. Aber wie oft wäre der Einsatz von Gewalt dabei nicht nötig gewesen? Damit beschäftigt sich eine Studie, die am Dienstag vorgestellt wurde.

Polizisten der Bundespolizei nehmen während einer Übung einen Fußballfan fest. © dpa Foto: Philipp Schulze
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Für die wissenschaftliche Untersuchung an der Universität Frankfurt sind 3.300 Betroffene, 60 Polizistinnen und Polizisten, Mitarbeitende aus der Justiz und Opfer-Organisationen befragt worden. Beteiligt an dieser Studie war auch die Forscherin Hannah Espín Grau, die im NDR Info Interview über den Studienansatz, die Durchführung der Untersuchung und die Ergebnisse gesprochen hat.

Was war Ihre wichtigste Ausgangsfrage, Frau Espín Grau?

Hannah Espín Grau: Was wir im Hellfeld bislang gesehen haben in den amtlichen Statistiken, ist, dass es Fälle polizeilicher Gewaltanwendung gibt, die den Strafverfolgungsbehörden zur Kenntnis gelangen, dass aber die allermeisten dieser Verfahren eingestellt werden, nämlich über 90 Prozent. Und nur zwei Prozent landen überhaupt vor Gerichten und werden dort behandelt. Für uns war die Frage: Was sind das für Fälle, die zur Anklage gebracht werden? Warum sind das nur so wenige im Vergleich zu anderen Delikten, wo die Anklagequote im Schnitt bei 22 Prozent liegt? Was ist mit den Fällen, die eingestellt werden, und mit den Fällen und den Betroffenen, die sich dagegen entscheiden, ihre Erfahrung, ihr Erlebnis zur Anzeige zu bringen? Und was sind das für Personen? In welchen Situationen waren sie betroffen?

Sie haben also mit denjenigen gesprochen und Interviews geführt, die Anzeige erstattet haben, von denen also überhaupt bekannt geworden ist, dass es einen Fall von polizeilicher Gewalt gab?

Espín Grau: Wir haben nach Betroffenen gesucht und sie befragt, die selber sagen, die Gewalt, die sie durch die Polizei erfahren haben, war übermäßig. Also dass eine Grenze überschritten wurde, die nicht mehr akzeptabel war.

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Und warum waren die Betroffenen übermäßiger polizeilicher Gewalt ausgesetzt?

Espín Grau: Ganz unterschiedliche Faktoren spielen da eine Rolle. Das lässt sich nicht auf eine Betroffenengruppe reduzierten. Das lässt sich auch nicht auf einen Faktor reduzieren, sondern das sind dynamische Interaktionsgeschehen, die sich von Situation zu Situation unterscheiden. Aber wir sehen ein paar Linien, die zu einer Eskalation in einem polizeilichen Einsatz führen können. Ein wichtiger Faktor ist die Kommunikation. Die hat eine wichtige Bedeutung für die Deeskalation eines polizeilichen Einsatzes.

Polizisten der Bundespolizei nehmen während einer Übung einen Fußballfan fest. © dpa Foto: Philipp Schulze
Insbesondere im Umfeld von Großveranstaltungen kommt es nach Schilderung von Betroffenen häufig zu Fällen von Polizeigewalt.

Die Kommunikation ist aber nur ein Faktor. Wir sehen auch bei den Beamten und Beamtinnen, aber auch auf Seiten der Betroffenen Faktoren, die das Eskalationsgeschehen beeinflussen. Da sprechen wir auf der einen Seite von einzelnen Beamten und Beamtinnen, die bewusst die Eskalation suchen, die selbst problematische Einstellungen haben. Es gibt aber auch viele situative Faktoren. Es gibt zum Beispiel eine Sorge vor einem Kontrollverlust. Wenn die da ist, dann versucht die Polizei tendenziell ihre Dominanz in der Situation mit Gewalt durchzusetzen und ihre Autorität zu behaupten. Auch Faktoren wie Stress, Frustration, Zeitdruck, Arbeitsbelastung können dazu führen, dass eine Gewaltanwendung eine Grenze überschreitet, die sie eigentlich nicht überschreiten dürfte.

Die Betroffenen haben aber auch selbst ihr eigenes Verhalten reflektiert in unserer Befragung. Teilweise geben sie an, sie hätten nach den Rechtsgründen für die Maßnahme gefragt, und das wäre der Eskalationsfaktor gewesen. Teilweise geben sie auch an, sie hätten provoziert oder zum Beispiel nach der Dienstnummer gefragt. Und all das stellt in dem Moment aus ihrer Perspektive den Eskalationsfaktor dar, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Was ist das Problem in der Polizeiarbeit in puncto Gewalt?

Espín Grau: Ich glaube, wir haben es mit ganz umfassenden und strukturellen Problemlagen zu tun, die einerseits die Situation betreffen, andererseits aber vor allem auch die Aufarbeitung von solchen Fällen. Wir sehen, dass in der strafjustiziellen Aufarbeitung einerseits das Problem besteht, dass Betroffene sich oft gar nicht trauen, ihre Erfahrung zur Anzeige zu bringen. Der wichtigste Grund für die Betroffenen ist, dass sie Angst vor Repressionen haben und davon ausgehen, dass ihre Anzeige zu nichts führen wird. Und da geben ihnen ja sozusagen die Zahlen auf dem Hellfeld auch recht. Da ist schon ein großes Bewusstsein vorhanden, dass die allermeisten Ermittlungsverfahren eingestellt werden.

Was tut die Polizei, um von sich aus solchen Fällen von ungerechtfertigter Gewaltanwendung vorzubeugen?

Espín Grau: Ich denke schon, dass es mittlerweile ein Problembewusstsein in der Polizei gibt, zumindest an bestimmten Stellen. Das Thema wird natürlich in der polizeilichen Ausbildung behandelt. Eine andere Frage ist aber, was in der Praxis passiert. Das ist auch etwas, was uns die Polizeibeamten und -beamtinnen in den Interviews geschildert haben: Dass man sich natürlich in der Ausbildung damit beschäftigt, was die Grenzen der Verhältnismäßigkeit sind, wie man juristisch auf eine Maßnahme gucken kann. Was dann aber in der Praxis passiert und was ihnen vorgelebt wird von Vorgesetzten, von Älteren, ist dann eine andere Realität. Über die Jahre findet auch ein Anpassungsprozess statt. Es gibt nicht nur das Wissen aus den Büchern, sondern auch das Erfahrungswissen, was ihr eigenes Wissen ist, aber auch das Wissen, was ihnen kolportiert wird von Erzählungen von Einsätzen von Kollegen und Kolleginnen.

Welche Situationen sind das, in denen Polizeigewalt vor allen Dingen offensichtlich ungerechtfertigt angewendet wird?

Espín Grau: Die Betroffenen haben uns vor allem Fälle geschildert, die bei Demonstrationen oder im Kontext von Fußballspielen passiert sind. Es kann aber einfach überall vorkommen. Uns wurden sehr diverse Einsatzsituationen auch außerhalb von solchen Großveranstaltungen geschildert. Ein besonderes Eskalationspotenzial haben dabei zum Beispiel Kontrollsituationen, wenn Personengruppen umstellt oder eingekesselt werden, Fest- und Ingewahrsamnahmen, aber auch zum Beispiel Abschiebe-Situationen, weil es da für die Betroffenen natürlich um eine sehr existenzielle Situation geht.

Das Interview führte Sabine Rein, NDR Info.

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NDR Info | Interview | 16.05.2023 | 15:05 Uhr

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