Prozessauftakt: Polizist räumt Schläge gegen Betrunkenen ein

Stand: 09.05.2023 09:35 Uhr

Im Juli 2021 filmte ein Passant, wie ein Polizist einem Mann mit der Faust ins Gesicht geschlagen hat. Im Netz sorgte das Video damals für Empörung. Das Amtsgericht Göttingen muss das Geschehen nun aufklären.

von Wieland Gabcke

Ein Polizist kniet auf einem am Boden liegenden Mann und schlägt ihm ins Gesicht: Das Internetvideo zu dem Polizeieinsatz am frühen Morgen des 18. Juli 2021 ist verstörend. Der Prozessauftakt am Amtsgericht Göttingen zeigt aber, dass der Vorfall deutlich komplexer ist. Dem Polizisten wirft die Staatsanwaltschaft Körperverletzung im Amt vor. Die Frage lautet nun: Hat sich der Angeklagte korrekt verhalten oder unzulässige Gewalt angewandt?

Bodycam-Aufnahmen zeigen Vorgeschichte zum Internetvideo

Im Gerichtssaal werden neben den bekannten Internetvideos die Bodycam-Aufnahmen der Polizisten vorgespielt. Zu sehen ist der betrunkene Mann. Die Stimme des Angeklagten ist zu hören. Er fordert den Betrunkenen auf, sich auszuweisen. Aber der geht weg und verhält sich dabei verbal und in seiner Körpersprache aggressiv. Der Angeklagte weist den Betrunkenen in dem Video darauf hin, dass er gerade Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte begeht. Kurz darauf ein Handgemenge. Schließlich sieht man den Betrunkenen am Boden fixiert, während er die Beamten weiter massiv und lautstark beschimpft.

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"Flegelhaft und provokant" - Geschädigter hat Aggressionsproblem

Bei dem Mann am Boden handelt es sich um einen heute 30-jährigen Physiotherapeuten. Er schäme sich für sein Verhalten, sagt der durchtrainierte Mann vor Gericht aus. Bei zu viel Alkohol werde er "flegelhaft und provokant". 1,63 Promille hatte er damals im Blut. Im Zuge der Befragung wird deutlich, dass der 30-Jährige bereits früher wegen Aggressionen in Therapie war. Außerdem sei er einmal zivilrechtlich wegen Körperverletzung verurteilt worden, sagt der 30-Jährige. Im vergangenen Jahr hatte er sich abermals mit einer Personengruppe angelegt. Der Richter kündigt daraufhin an, für den nächsten Verhandlungstag eine komplette Übersicht der Vorstrafen des 30-Jährigen zu besorgen.

Geschädigter verhielt sich respektlos gegenüber Polizei

Aggressiv verhielt sich der Physiotherapeut offenbar auch am 18. Juli 2021. Auf dem Unicampus habe er eine Gruppe Polizisten "auf nicht respektvolle Art und Weise" angesprochen, sagt er. Am frühen Morgen beschimpfte er dann eine vorbeifahrende Polizeistreife und machte obszöne Gesten. In der Fußgängerzone, wo es dann zu dem Vorfall kam, versperrte er einer Streife den Weg. Einen der Beamten kannte er aus der Schule. Die Situation sei zunächst entspannt gewesen, sagt der 30-Jährige aus. Erst als die Streife mit dem angeklagten Polizisten eintraf, sei da "direkt eine andere Energie gewesen". Im Klartext: Erst als der Angeklagte eintraf, sei die Situation eskaliert.

Ist der Angeklagte zu forsch aufgetreten?

Der Richter greift diese Aussage des Zeugen auf. Er fragt den Angeklagten, ob er forscher aufgetreten sei und sich deshalb die "Energie" verändert habe. Der Angeklagte weist das zurück. "Für mich hatte die Situation eine von Beginn an aufgeheizte, aggressive Stimmung", erklärt der 33-Jährige Polizist. Er habe seine Kollegen vorher noch nie so eingeschüchtert erlebt. Als er den Eindruck hatte, dass eine körperlicher Auseinandersetzung droht, habe er einen Kopfkontrollgriff bei dem 30-Jährigen versucht anzuwenden.

Angeklagter sagt, Betrunkener hat zuerst zugeschlagen

In dem anschließenden Handgemenge habe der Betrunkene ihm dann die Luft abgedrückt und zugeschlagen. Er habe dann selbst Schläge angewandt, bis der Mann sicher am Boden fixiert in Bauchlage war. "Das heißt, die Faustschläge durch Sie waren nach den Faustschlägen gegen Sie?", hakt der Richter nach. Der Angeklagte bejaht das. "Ich habe Auseinandersetzungen nie gesucht", so der Angeklagte. Aber er habe hier keine Alternative gehabt, das anders zu bewerten.

Richter fragt, ob Angeklagter ein "Heißsporn" sei

Ein Polizeianwärter war damals mit dem Angeklagten auf Streife. Auch er sagt als Zeuge aus, der Betrunkene habe den Konflikt gesucht. Wer wann zuerst geschlagen hat, dazu kann er sich nicht äußern. Der Nebenklage-Anwalt will von dem Zeugen wissen, ob der Angeklagte nach Einsätzen manchmal habe beruhigt werden müssen. Der Polizist zögert und verneint. Der Richter fasst nach und will von dem Zeugen wissen, ob der angeklagte Kollege ein "Heißsporn" sei. "Das habe ich nie mitbekommen, nein", sagt der Polizist.

Psychische Schäden auf beiden Seiten

Bei dem Physiotherapeuten wurde eine Posttraumatische Belastungsstörung festgestellt. Alle sechs Wochen gehe er zur Therapie. "Mehr kann ich mir nicht leisten", sagt der 30-Jährige. Vor Gericht versucht er den Eindruck zu vermitteln, die Belastung und seine Emotionen im Griff zu haben. Der Angeklagte leidet hingegen an Schlafstörungen und Depressionen, erklärt seine Verteidigerin. Ihr Mandant habe einen medialen Shitstorm und eine Hetzjagd erlebt. "Auch seine Frau war belastet, beide standen unter Polizeischutz", so die Anwältin. Den Streifendienst und seine Band habe ihr Mandant verlassen und in eine andere Stadt ziehen müssen. Sollte der Polizist verurteilt werden, sind laut Amtsgericht Freiheitsstrafen von mindestens drei Monaten bis zu zehn Jahren möglich.

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