Der Göttinger Rechtswissenschaftler Gunnar Duttge. © Gunnar Duttge Foto: Christoph Mischke

Blutiger Polizeieinsatz: Welche Mittel sind legitim?

Stand: 09.05.2023 17:15 Uhr

Das Amtsgericht Göttingen muss klären: Waren die Faustschläge eines Polizisten und das Fixieren mit dem Knie legitim? Der Rahmen ist eng, so Professor Gunnar Duttge, Strafrechtler an der Universität Göttingen.

Herr Duttge, einem Polizisten wird Körperverletzung im Amt vorgeworfen, von dem Vorfall gibt es ein Internetvideo. Welche Fragen muss das Amtsgericht Göttingen jetzt klären? Worum genau wird es Ihrer Ansicht nach jetzt gehen in dem Prozess?

Gunnar Duttge: Die Sache hat eine polizeirechtliche und eine notwehrrechtliche Dimension. Und in jedem Falle wird es darum gehen, was war eigentlich die Vorgeschichte? Anhand des Internetvideos ist nicht klar zu sagen: Hat der Adressat des Polizei-Zugriffs selber die körperliche Eskalation gesucht oder hat er sich körperlich erst gegenüber dem polizeilichen Zugriff zur Wehr gesetzt? Wer hat als Erstes körperlich Gewalt angewendet? Welche Gefahr ging eigentlich von dem Betroffenen des Polizei-Zugriffs aus, insbesondere zu dem Zeitpunkt, als er schon am Boden lag, auf dem Bauch, und die Polizeibeamten versucht haben, ihn rücklings sozusagen zu fixieren. Es gibt polizeirechtlich das Verhältnismäßigkeitsgebot: War wirklich das - noch dazu: mehrfache - Schlagen mit der Faust ins Gesicht zur Gefahrenabwehr alternativlos? Und beim Fixieren des Betroffenen mit dem Knie am Hals oder Wirbelbereich stellt sich in gleicher Weise Frage der Erforderlichkeit und Angemessenheit. Da waren mehrere Polizeibedienstete. Die Polizei hat weitere Mittel. Wie ist es mit Pfefferspray oder dem Herbeirufen anderer Polizeikräfte? Hier stehen ja mehrere Personen in Uniform einem Einzelnen gegenüber.

VIDEO: Göttingen: Polizist steht wegen Körperverletzung vor Gericht (08.05.2023) (1 Min)

Zum Prozessauftakt war die Vorgeschichte des Einsatzes ja ein Thema: Ein aggressiver, betrunkener Mann, der sich einer Identitätsfeststellung entziehen wollte. Ganz allgemein gefragt: Wie sollten Polizisten im Einsatz mit so einer Person umgehen? Einschreiten oder gleich Verstärkung rufen?

Duttge: Das ist natürlich eine Frage der Polizeitaktik. Ich bin kein Polizeitaktiker, sondern ein Strafrechtler. Aber ich denke, der gesunde Menschenverstand besagt, dass man erst einmal die ruhige Ansprache zu Beginn ausprobieren sollte, um die Eskalation möglichst gleich von vornherein abzuwenden. Und wenn man dann aber merkt, dass der Betreffende nicht mehr kontrollierbar ist und sich allen Zugriffsmöglichkeiten entzieht, dann ist die Überlegung natürlich ganz wichtig: Schaffen wir das hier mit drei, vier Personen mit unseren Hilfsmitteln, die uns zur Verfügung stehen? Oder brauchen wir von vornherein Verstärkung? Es ist mir ein ganz wichtiges Anliegen, klarzustellen: Eine Art von Rambo-Mentalität - ich schaffe das alleine, oder wir schaffen das alleine - das ist genau das, was nicht den Anforderungen an einen rechtsstaatlichen Polizeieinsatz entspricht. Und genau das ist die Frage: Was ist das Ziel der Polizeikräfte hier gewesen? Und warum kamen für sie in jenem Moment, als die Fäuste eingesetzt wurden, nicht alternative Möglichkeiten in Betracht?

Sie hatten es schon angedeutet: Lässt sich anhand dieses Internetvideos überhaupt einordnen, ob es ein zulässiger Polizeieinsatz oder Polizeigewalt war?

Duttge: Klare Antwort: Nein, das lässt sich nicht seriös einschätzen. Ich meine, dass man erst, wenn man alle Fakten zusammengetragen hat, auch die Zielrichtung des Polizeieinsatzes und die konkreten situativen Rahmenbedingungen wirklich dezidiert vor Augen hat. Dann erst kann die rechtliche Würdigung auch seriös vonstatten gehen. Aber ich neige, ohne dem Amtsgericht Göttingen vorgreifen zu wollen, bei aller Vorsicht doch dazu, festzuhalten, dass das Fixieren mit dem Knie gegen den Hals wegen der damit einhergehenden Lebensgefahr womöglich eine absolute Schwelle überschritten haben könnte. Denken wir nur an den US-amerikanischen Fall Floyd. Wenn man das so vertritt, weil dann eben die Erstickungsgefahr nicht mehr kontrollierbar einzudämmen ist, dann braucht man natürlich die Vorgeschichte nicht mehr zu kennen. Dann ist es klar. Das Gericht wird sich also in rechtlicher Hinsicht entscheiden müssen, ob hier jenseits der Überlegungen zur Verhältnismäßigkeit eine absolute Schwelle, eine rote Linie, überschritten worden ist.

Können Sie einschätzen, wie häufig es zu solchen Vorfällen im Polizeialltag kommt? Vor allem im Bezug auf Niedersachsen?

Duttge: Ja, es gibt die amtliche Polizeiliche Kriminalstatistik, PKS Niedersachsen. Dort sind alle Fälle erfasst, in denen Polizeibeamten im Dienst gewaltsam tätig geworden sind und bei denen wir von einer Verdachtslage ausgehen müssen, dass eine Körperverletzung im Amt begangen worden sein könnte. Und diese Statistik weist in den letzten fünf Jahren für Niedersachsen durchschnittlich etwa 230 bis 250 Fälle aus. Das sind also nicht ganz wenige. Andererseits: Nicht jeder Verdachtsfall entpuppt sich am Ende dann als tatsächlich begangene strafbare Handlungsweise, sondern als legale Einwirkung von Zwang im Rahmen eines erlaubten Polizeieinsatzes. Signifikant ist, dass diese Zahl im vergangenen Jahr angestiegen ist. Die Aufklärungsquote liegt übrigens stabil bei 80 Prozent.

Kommt es denn häufig vor, dass Vorwürfe von Körperverletzung im Amt durch Polizisten vor Gericht landen und verhandeln werden? Wie schätzen Sie das ein?

Duttge: Diese Zahlen sind natürlich deutlich niedriger. Man kann also sagen, dass sich von den 80 Prozent aufgeklärten Fällen dann doch offensichtlich ein nicht geringer Teil als ganz legaler Polizeieinsatz entpuppt. Aber es gibt eben auch einen Anteil von Fällen, in denen die Grenzlinien überschritten worden sind. Wir haben nur die Statistik für das gesamte Bundesgebiet. Da liegen die Fälle von strafbaren Körperverletzungen im polizeilichen Einsatz pro Jahr bei etwa 40. Berücksichtigt werden muss dabei aber auch, dass Strafverfahren vorzeitig gegen Auflage eingestellt werden. Oder sie können beschleunigt, ohne Hauptverhandlung mit einem Strafbefehl enden können.

Wie fallen die Gerichtsurteile bei Körperverletzung im Amt aus? Gibt es da Erfahrungswerte?

Duttge: Ja, auch das lässt sich der amtlichen Justizstatistik entnehmen. Zu etwa 85 Prozent der Fälle enden solche Verfahren vor Gericht mit einer Geldstrafe. Es gibt aber natürlich auch Einzelfälle, in denen dann eine Freiheitsstrafe auf Bewährung ausgesprochen worden ist. Und da geht es erstaunlich häufig dann tatsächlich darum, dass der Polizeibeamte den Betroffenen mit der Faust ins Gesicht oder auf den Kopf geschlagen hat, oder den Kopf auf die Motorhaube. Anderes Beispiel: Der Täter liegt bäuchlings auf dem Boden, Polizist schlägt ihn fünfmal mit der Faust. Das sind also Fälle, die dann in aller Regel nicht mehr mit der Geldstrafe, sondern eher mit einer Freiheitsstrafe auf Bewährung sanktioniert werden.

Das Interview führte Wieland Gabcke.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | Niedersachsen 18.00 | 08.05.2023 | 18:00 Uhr

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