Ramelow: "Wir müssen miteinander und nicht übereinander reden"
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linkspartei) ruft im Gespräch mit NDR Info dazu auf, den Tag der Deutschen Einheit zum Anlass zu nehmen, die Gefühlslage der Menschen in Ostdeutschland stärker in den Blick zu rücken.
Herr Ramelow, warum sollten wir die Menschen in Ostdeutschland stärker beachten?
Bodo Ramelow: Es geht darum, dass wir gesamtdeutsch zur Kenntnis nehmen müssen, dass der Tag der Deutschen Einheit auch Anlass ist, über kritische Punkte miteinander und nicht übereinander zu reden. Ich bin froh, dass es vor 33 Jahren einen Vereinigungsprozess gab, der ohne jede Gewalt, ohne jeden Schuss, ohne militärische Eskalation geschehen ist. Auch der ökonomische Prozess ist gut am Laufen. Nur der psychologische hinkt leider deutlich hinterher.
Sie sind ja in Niedersachsen aufgewachsen. Lässt man Sie das noch spüren, dass Sie aus dem Westen kommen?
Ramelow: Die Menschen lassen mich das nicht spüren. Aber im politischen Raum werde ich manchmal dazu aufgefordert, das Land zu verlassen und zu verschwinden, in den Westen abzuhauen - aus der rechten Ecke. Darin steckt eine Attitüde gegen den Westen. Das sind aber nur die Lauten, nicht die Mehrheit.
In Ihrem Bundesland Thüringen wird im kommenden Jahr gewählt. Den Umfragen zufolge käme die AfD auf über 30 Prozent. Ihre Partei liegt zehn Prozentpunkte dahinter. Warum ist das so?
Ramelow: Herrn Höcke ist es gelungen, aus der westdeutschen Professorenpartei eine ostdeutsche, moderne, faschistische Partei zu machen. In Thüringen kann man davon ausgehen, dass es keinen Flügel in der AfD mehr braucht. Die gesamte Thüringer AfD ist mittlerweile zum Flügel mutiert. Da gibt es keine Opposition mehr gegen Herrn Höcke. Als ob alle eine bestimmtes Sprachtraining gemacht hätten. Da wird nur noch von den Systemparteien, den "Altparteien", geredet, und das zieht Menschen an, die sich vom Prozess der deutschen und der europäischen Vereinigung sehr verunsichert fühlen.
Aber dieses Gefühl tragen ja scheinbar auch junge Menschen in sich, die erst nach der Wiedervereinigung geboren wurden. Wieso fremdelt auch die nachfolgende Generation, die eigentlich ganz andere Möglichkeiten hat als die vorangegangene, mit der Einheit?
Ramelow: Wir werden die deutsche Einheit nur hinkriegen, wenn sich auch die Menschen aus dem Osten darin wiederfinden und sich nicht emotional abgehängt fühlen. Wirtschaftlich kommt noch dazu, dass der ostdeutsche Lohn im Durchschnitt immer noch 18 Prozent niedriger ist als im Westen, was mehr Arbeitszeit und weniger Geld am Monatsende bedeutet.
Ihr Parteikollege Dietmar Bartsch hat die Bundesregierung aufgefordert, ein Spitzentreffen zu Ostdeutschland einzuberufen...
Ramelow: Die Frage ist, inwieweit man den Vertretern der ostdeutschen Länder Gehör schenkt. Mit Karl Lauterbach haben wir beispielsweise sehr intensiv über die Gesundheitsreform und die notwendigen Schritte zur Stabilisierung der Krankenhäuser in ganz Deutschland diskutiert. Denn es gibt Beispiele und Vorschläge aus Ostdeutschland, die hier sehr helfen können, weil wir über entsprechende Erfahrungen verfügen. Das hat er sich aufmerksam angehört. In Berlin wurde dann eine Arbeitsgruppe gebildet, in der nicht ein einziger Vertreter aus Ostdeutschland saß. Das ist die Realität, die wir dann empfinden. Ich würde mir tatsächlich wünschen, wieder mehr den Millionen Ostdeutschen zuzuhören, die auch Teil eines geeinten Deutschlands sind und sich als Europäer empfinden, aber sich benachteiligt fühlen.
Das Interview führte Stefan Schlag, NDR Info