Polizeieinsatz in Lützerath: Schwierige Aufarbeitung
Nach den Protesten rund um die Räumung von Lützerath werfen sich Polizei und Demonstrierende sich gegenseitig Gewalt vor. Zwei Polizeiforscher sprechen sich für eine umfassende gesellschaftspolitische Aufarbeitung der Geschehnisse aus.
Der Jurist Philipp Schönberger hat am Sonnabend mitdemonstriert. Er ist dagegen, dass die Kohle unter Lützerath abgebaggert wird. Die teils heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und der Polizei beobachtete er aus etwa 40 Metern Entfernung, erzählt Schönberger am Telefon. Er habe Polizisten beobachtet, die "körperlichen Zwang" gegen Demonstrierende angewandt hätten, "sowohl mit Schlägen, mit Schlagstöcken, mit Fäusten, mit hineinrennen in Demonstrierende".
Schönberger arbeitet für zwei Nichtregierungsorganisationen, war aber als Privatperson bei dem Protest dabei. Es ist nicht das erste Mal, dass er einen Polizeieinsatz auf einer Großdemo miterlebt. Da er auf Seiten der Demo-Teilnehmer in Lützerath keine Gewalt beobachtet habe, zweifle er an der Verhältnismäßigkeit des Vorgehens der Polizei:
"Es war oft nicht erkennbar, was eigentlich der Zweck dieser Polizeitaktiken oder eben auch der Zwangsanwendung gegen einzelne Personen sein sollte."
Hamburger Polizeiforscher: "Keine kollektiven Gewaltexzesse"
Der Hamburger Polizeiforscher Rafael Behr hat sich Videos von den Zusammenstößen angeschaut. Er beurteilt den Polizeieinsatz im Großen und Ganzen als verhältnismäßig. Der Einsatz von Wasserwerfern und Pfefferspray sehe martialisch aus, sei aber in der Wirkung weniger dramatisch. Zudem habe er gesehen, dass der Schlagstock in vielen Fällen so eingesetzt wurde, wie es in der Polizeiausbildung gelehrt werde: Mit leichten Schlägen auf Arme und Beine, nicht auf den Kopf. Die Veranstalter der Demonstration werfen der Polizei genau das vor, auch auf Köpfe geschlagen zu haben. Sollte sich der Vorwurf erhärten, müsse das geprüft werden, so Behr. Er habe aber keine "kollektiven angeordneten Gewaltexzesse" beobachtet.
14 Personen mussten nach Angaben des Landkreises Heinsberg insgesamt im Krankenhaus behandelt werden – Polizisten und Aktivisten. Die Aktivisten sprachen zunächst auch von lebensgefährlich Verletzten – inzwischen wurde diese Einschätzung zurückgenommen.
Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) verteidigt den Polizeieinsatz am Donnerstag vor dem Innenausschuss des Düsseldorfer Landtags. Die Polizei habe die Demo-Teilnehmer davon abhalten sollen, in das abgeriegelte Dorf Lützerath einzudringen. Insbesondere als Reaktion auf Gewalt durch "Störer" sei es zum offensiven Einsatz des Schlagstocks gekommen. Einige der "Störer" hätten nach Angaben der Einsatzkräfte gezielt nach deren Schusswaffen gegriffen, so Reul. Insgesamt waren nach Angaben des Ministers am Sonnabend 3300 Polizeikräfte im Einsatz.
Ziviler Ungehorsam fordert die Polizei heraus
Für den Kriminologen Tobias Singelnstein von der Goethe-Universität Frankfurt offenbart das Geschehen eine besondere Herausforderung der Polizei. Natürlich müsse sie dafür sorgen, dass Recht eingehalten werde, aber es gebe auch den Bereich des zivilen Ungehorsams, der bewusst mit Regel-Überschreitungen arbeite. In einer Demokratie stellten diese Protestformen auch eine Form der politischen Auseinandersetzung dar. Die Polizei müsse sich aus Gründen der Verhältnismäßigkeit genau überlegen, ob und in welcher Form sie dagegen vorgehen müsse. Singelnstein stellt klar:
"Auch für die Polizei ist die Gewaltbefugnis eine Ausnahme-Befugnis. Das heißt, sie darf die Gewalt nur anwenden, wenn es eigentlich nicht mehr anders geht."
In den Videos des Polizeieinsatzes von Lützerath habe er gesehen, wie mit "relativ harter Gewalt und ungestümen Schlagstock-Einsatz" gegen Demonstrierende vorgegangen worden sei, die keine erkennbare Gewalt ausgeübt hätten. Das Innenministerium in Nordrhein-Westfalen (NRW) will mögliches Fehlverhalten von Polizeibeamten in Einzelfällen prüfen. Wenn einzelne Polizistinnen und Polizisten Fehler gemacht hätten, würden diese Beamte zur Rechenschaft gezogen, so Reul am Donnerstag. In fünf Fällen seien bisher Ermittlungen gegen eingesetzte Beamte eingeleitet worden. Dabei gehe es um den Verdacht der Körperverletzung im Amt, aber auch um sexuelle Belästigung.
Mögliche Polizeigewalt ist nur schwer nachzuweisen
Doch immer wieder zeigt sich, dass die juristische Aufarbeitung von Polizeigewalt schwierig ist. Singelnstein erklärt, es müsse einzelnen Beamtinnen und Beamten ein Fehlverhalten nachgewiesen werden. Oft fehlten dafür die notwendigen Beweismittel, da es nur von wenigen Situationen Videoaufnahmen gebe. In vielen Fällen stehe dann Aussage gegen Aussage.
Seine Forschung hat ergeben: Nur rund zwei Prozent der Fälle werden von der Staatsanwaltschaft schließlich zur Anzeige gebracht, der Rest werde fallen gelassen. Beide Wissenschaftler, Singelnstein und Behr, sprechen sich deswegen dafür aus, dass in solchen Fällen eine unabhängige Stelle gegen Polizeibeamte ermitteln sollte. NDR Info hat das Innenministerium in NRW danach gefragt. Ob die Aufklärung durch eine solche unabhängige Stelle geplant sei, lässt ein Sprecher offen.