PISA-Zeugnis für Deutschland: So schlecht wie nie zuvor
Die neue weltweite PISA-Studie liegt vor. In Deutschland haben die Schülerinnen und Schüler im Alter von 15 Jahren so schlecht abgeschnitten wie noch nie zuvor. Welche Rolle spielt bei der Entwicklung die Corona-Pandemie?
Die Leistungen von Schülern in Deutschland sind während der Corona-Pandemie deutlich schlechter geworden. Dies zeigt die heute in Berlin veröffentlichte PISA-Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Sie wurde im Frühjahr 2022 auch an deutschen Schulen unter 15-jährigen Jungen und Mädchen durchgeführt. Demnach fielen die Ergebnisse der Jugendlichen sowohl in Mathematik als auch in Lesekompetenz und Naturwissenschaften schlechter aus als im Jahr 2018. Mehr noch: "Insgesamt handelt es sich bei den Ergebnissen von 2022 in allen drei Kompetenzbereichen um die niedrigsten Werte, die jemals im Rahmen von Pisa gemessen wurden", heißt es in der Studie. Deutschland nimmt seit dem Jahr 2000 an der Studie teil.
"Dramatischer Rückgang" in Mathematik
In Mathematik stürzten die deutschen Schülerinnen und Schüler besonders ab. Sie erreichten einen Punktwert von 475, bei der Untersuchung vier Jahr zuvor waren es noch 500 Punkte. Die OECD spricht von einem "dramatischen Rückgang". Auch im Lesen und in Naturwissenschaften gab es deutlich weniger Punkte als bei der vorherigen PISA-Studie. Deutschland liegt damit im internationalen Vergleich in den Bereichen Mathematik und Lesekompetenz unter dem OECD-Durchschnitt - und in Naturwissenschaften leicht über dem Durchschnitt. Auch international ist die Leistung in der untersuchten Altersgruppe stark gesunken.
Corona-Pandemie und Sprach-Probleme
Als einen Grund für das schlechte Zeugnis sieht die OECD die Folgen der Schulschließungen in der Corona-Pandemie - allerdings gebe es in Deutschland wie in vielen anderen Ländern einen auch schon vor der Corona-Krise begonnenen Trend zu schlechteren Schulleistungen. Ein weiterer möglicher Faktor für die schlechten Ergebnisse sind fehlende Sprachkenntnisse. "Ein zentraler Grund ist sicherlich, dass wir es nach wie vor nicht geschafft haben, eine frühe Sprachförderung für alle, die sie benötigen, durchgängig sicherzustellen", sagte die Studienleiterin Doris Lewalter.
Hamburgs Schulsenator: Schülerschaft hat sich verändert
Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) zeigte sich wenig überrascht. "Die Ergebnisse waren zu erwarten", sagte Rabe. Die Corona-Pandemie habe zu deutlichen Lernrückständen geführt. "Während der Corona-Pandemie waren die Schulen fast ein halbes Jahr lang weitgehend geschlossen, ein weiteres halbes Jahr lang fand nur jede zweite Unterrichtsstunde in der Schule statt: Die jetzt mit der PISA-Studie nachgewiesenen Lernrückstände von einigen Monaten sind die schlimme Folge."
Rabe wies aber auch drauf hin, dass sich die Schülerschaft deutlich verändert habe: Die Zahl der Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern hat erheblich zugenommen." Die Studie zeige, dass die Zahl der Kinder mit Migrations-Hintergrund in Deutschland seit 2002 um rund 50 Prozent gestiegen sei. Nur knapp die Hälfte von ihnen spreche zu Hause Deutsch. "Wir müssen deshalb mehr Zeit und mehr Konzentration für das Erlernen von Basiskompetenzen wie Lesen, Schreiben, Zuhören sowie Mathematik einsetzen", so der Schulsenator.
Niedersachsen will höhere Stundenzahl an Grundschulen
Auch Niedersachsens Kultusministerin Julia Willie Hamburg fordert Konsequenzen. Die PISA-Ergebnisse seien besorgniserregend, sagte die Grünen-Politikerin. Eine zunehmend uneinheitliche Schülerschaft stelle die Schulen vor Herausforderungen. "In Niedersachsen werden wir im nächsten Jahr einen Sozialindex implementieren, um gezielt die Schulen zu fördern, die besondere Bedarfe haben", kündigte Hamburg an. Außerdem werde vom Schuljahr 2024/25 an die Stundenzahl an den Grundschulen erhöht, um die Grundkompetenzen zu stärken.
Bildungsministerin Oldenburg: "Schüler brauchen mehr Zeit"
Mecklenburg-Vorpommern setzt ebenfalls auf mehr Unterricht, vor allem in den Fächern Deutsch und Mathematik - und zwar ab dem kommenden Schuljahr von der Grundschule bis zum Gymnasium. So kündigte es Bildungsministerin Simone Oldenburg (Die Linke) im NDR Fernsehen an: "Schüler brauchen schlicht mehr Zeit." Angesprochen auf den bundesweiten Lehrermangel sagte Oldenburg, dass sich die Situation nicht über Nacht ändern lasse.
Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) sagte, die PISA-Ergebnisse müssten ein Weckruf für die Politik sein. "Wir müssen mehr in Bildung investieren", sagte die Ministerin. "Wir müssen - über alle Altersstufen hinweg - Bildung in den Haushalten von Bund und Ländern priorisieren."
Schüler fühlen sich mit Problemen allein gelassen
Aus Sicht der Schülervertretungen kommen die Ergebnisse der PISA-Studie nicht aus heiterem Himmel. "Das hatten wir so ähnlich schon befürchtet", sagte Florian Fabricius von der Bundesschülerkonferenz im Gespräch mit NDR Info. Der 18-Jährige wirft der Politik vor, die Folgen der Schulschließungen während der Pandemie dramatisch unterschätzt zu haben. "Die Politik verfährt nach dem Motto: Die Zeit heilt alle Wunden! Dem ist aber nicht so", meint Fabricius. Die Pandemie habe zudem zu einer stark gestiegenen Zahl an psychischen Erkrankungen unter Schülerinnen und Schülern geführt. Mobbing, Depressionen und Stress seien ein großes Problem an den Schulen. Ein Grund für schlechtere Leistungen ist nach Ansicht der Bundesschülerkonferenz der Lehrkräftemangel. Dies zeige auch die PISA-Studie eindrucksvoll, so Fabricius.
GEW: "Es sind massive Anstrengungen notwendig"
Die Bildungsgewerkschaften fordern ebenfalls Schritte gegen den Unterrichtsausfall. "Die wieder ernüchternden PISA-Ergebnisse spiegeln auch den Lehrkräftemangel wider", teilte Sven Quiring als Vorsitzender des Hamburger Landesverbandes der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) mit. "Es sind massive Anstrengungen notwendig, um viel mehr Lehr- und Fachkräfte zu gewinnen: Das Thema gehört ganz oben auf die politische Agenda." Die GEW beklagt zudem, dass das Bildungssystem nach wie vor sozial ungerecht sei: "Dass sich seit über 20 Jahren nichts daran ändert, dass die schulischen Leistungen der Kinder und Jugendlichen vom Elternhaus abhängig sind, ist wirklich beschämend", sagt Quiring.
Elternrat: "Viel zu lange ist nichts passiert"
Auch viele norddeutsche Eltern schauen besorgt auf die miesen PISA-Ergebnisse. Der Landeselternrat Niedersachsen fordert deshalb eine "gesellschaftliche Kraftanstrengung, damit die Schulen im internationalen Vergleich wieder konkurrenzfähig werden". Es sei viel zu lange viel zu wenig passiert, sagte Landeselternrat-Vorsitzender Michael Guder dem NDR. "Wir brauchen jetzt endlich Antworten auf die Frage: Wie können wir das Lernen an den Schulen verbessern? Ein paar Schönheits-Korrekturen reichen da nicht mehr aus."
Weltweit knapp 700.000 Schüler getestet
PISA ist die weltweit größte Schulleistungsstudie und untersucht die Kompetenzen von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern in den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen. Schwerpunkt der aktuellen Studie ist die Mathematik. Die Studie fragt nicht Faktenwissen ab, sondern untersucht, ob Schülerinnen und Schüler ihr Wissen anwenden und Informationen sinnvoll verknüpfen können.
Aus den 81 Ländern hat Singapur am besten abgeschnitten. Allgemein waren vor allem asiatische Länder und Volkswirtschaften - also auch Japan, Südkorea und chinesische Regionen - am leistungsstärksten. Aus Europa landete nur Estland mit seinen Ergebnissen in allen drei Kategorien in der Spitzengruppe. Aus Deutschland waren 6.116 der 15-Jährigen dabei. In Hamburg beispielsweise machten rund 300 Schülerinnen und Schüler aus fünf Schulen mit.