Verheerende Pisa-Leistungen: "Schüler brauchen mehr Zeit"
Die neue weltweite Pisa-Studie liegt vor. Die deutschen Schülerinnen und Schüler im Alter von 15 Jahren haben so schlecht abgeschnitten wie noch nie zuvor. Mecklenburg-Vorpommerns Bildungsministerin Simone Oldenburg (Linke) will Schülern mehr Lernzeit geben.
Die Leistungen deutscher Schüler sind während der Corona-Pandemie deutlich schlechter geworden. Dies zeigt die am Dienstag in Berlin veröffentlichte Pisa-Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Sie wurde im Frühjahr 2022 auch an deutschen Schulen unter 15-jährigen Jungen und Mädchen durchgeführt. Demnach fielen die Ergebnisse der Jugendlichen sowohl in Mathematik als auch in Lesekompetenz und Naturwissenschaften schlechter aus als im Jahr 2018. Mehr noch: "Insgesamt handelt es sich bei den Ergebnissen von 2022 in allen drei Kompetenzbereichen um die niedrigsten Werte, die jemals im Rahmen von Pisa gemessen wurden", heißt es in der Studie. NDR MV fragte im Land nach - welche Faktoren sind für das Ergebnis verantwortlich und welche Konsequenzen müssen jetzt gezogen werden?
Bildungsministerin Oldenburg: "Schüler brauchen mehr Zeit"
Bildungsministerin Simone Oldenburg (Die Linke) sagte dem NDR, dass die Pisa-Studie erneut zeige, was schon andere Studien zuvor offenbart hätten. Sie verwies darauf, dass im Jahr 2009 der Deutsch- und der Mathematik-Unterricht gekürzt wurden und dass ihre Regierung diese Entwicklung nun zurückgedreht habe. Angesprochen auf den bundesweiten Lehrermangel sagte Oldenburg, dass sich die Situation nicht über Nacht ändern lasse. Man müsse sich Schritt für Schritt mit dem Problem auseinandersetzen. Ihr Fazit: "Es gibt eine große Schraube, an der gedreht werden muss - und das ist die Zeit." Es brauche mehr Zeit für die Förderung der Schüler, es brauche mehr zusätzlichen Unterricht und diesen gebe es ab dem kommenden Schuljahr von der Grundschule bis zum Gymnasium.
Schulforscher findet Diskussion "frustrierend"
Schulforscher Prof. Falk Radisch von der Universität Rostock betonte im Kontext der Pisa-Studie, dass das Glas aus nationaler Sicht noch halb voll sei. Deutschland bewege sich auf dem OECD-Durchschnitt oder leicht darüber. Kritik an der Aussagekraft der Pisa-Ergebnisse wies er zurück: "Aus wissenschaftlicher Perspektive ist es international der bestmögliche Vergleich. Es ist ein verlässliches Instrument für diese drei Kompetenzbereiche." Auf die Frage, was im deutschen Schulsystem schlecht laufe, sagte Radisch: "Offenbar sehr Vieles - und das wissen wir schon länger." Er finde es relativ ermüdend und frustrierend hier nachhaltig etwas positiv zu verändern. Deutschland habe es in der Vergangenheit verpasst, konkrete Veränderungen im Unterricht zu vollziehen. Es gehe um Ressourcen und um die Möglichkeiten der Unterrichtsgestaltung.
Mehr multimedial und digital denken
Die 17-jährige Neele Frommke aus dem Vorstand des Landesschülerrates sagte, dass Sie das schwache Abschneiden der deutschen Schüler nicht überrasche. "Seit dem ersten Pisa-Schock vor 23 Jahren sieht man in der Bildung keine maßgeblichen Veränderungen", kritisierte sie. Ihrer Meinung nach müsse in der Schule mehr multimedial und mehr digital gearbeitet werden. Der Frontalunterricht alleine bringe nichts. Außerdem müsse die Fortbildung der Lehrkräfte gefördert werden, sagte die Schülerin der zwölften Klasse des Innerstädtischen Gymnasiums Rostock. Der Vorstand des Landeselternrats, Kay Czerwinsky, findet für das jüngste Ergebnis markige Worte: "Die Pisa-Studie, um es mal ganz klar zu sagen, ist wie eine Krebsvorsorgeuntersuchung bei einem Risiko-Patienten. Seit Jahren stellen wir fest, dass die Metastasen immer mehr werden. Wir kennen auch die Therapie, bloß leider wird sie nicht angewandt." Er sagte, dass die Schule der Vorbereitung auf das Leben diene. Vor diesem Hintergrund müsse man sich also schon Gedanken darüber machen, wie es mit unserer Gesellschaft weitergehen wird.
Asiatische Länder mit Top-Ergebnissen
PISA ist die weltweit größte Schulleistungsstudie. Die aktuellen Tests wurden bereits 2022 durchgeführt. Weltweit haben 690.000 Schülerinnen und Schüler im Alter von 15 Jahren teilgenommen. Dabei geht es nicht um Faktenwissen. Stattdessen wird untersucht, ob Schüler ihr Wissen anwenden und Informationen sinnvoll verknüpfen können. Aus den 81 Ländern hat Singapur am besten abgeschnitten. Allgemein waren vor allem asiatische Länder und Volkswirtschaften, also auch Japan, Südkorea und chinesische Regionen, am leistungsstärksten. Aus Europa landete nur Estland mit seinen Ergebnissen in allen drei Kategorien in der Spitzengruppe. Aus Deutschland haben waren 6.116 der 15-Jährigen dabei. In den Bereichen Mathematik und Lesekompetenz waren ihre Leistungen nahe am Durchschnitt der OECD-Staaten. Im Bereich Naturwissenschaften lagen sie etwas darüber.
Experte kritisiert Pisa-Studie
Pädagoge und Historiker Rainer Bölling kritisiert die Studie: " Ein großes Problem ist zum Beispiel dieses Nationen-Ranking, das immer im Vordergrund steht", so Bölling. Er erklärt, dass Pisa Stichproben erstellt, die repräsentativ für 15-Jährigen sein sollen. Dabei werden in den jeweiligen Ländern unterschiedlich viele Schülerinnen und Schüler erfasst. "Beim letzten Mal war Deutschland Spitzenreiter, hatte 99,3 Prozent Erfassungsquote", betont Bölling. "Das heißt, so gut wie alle Schüler wurden durch diese Stichprobe repräsentiert. In anderen Ländern lag man unter 90, manchmal auch unter 80 Prozent. Und das wird dann miteinander verglichen, als wenn es dasselbe wäre."
Pisa-Studie sorgte bereits 2001 für Bildungsschock
Deutschland hat sich das erste Mal 2001 an der Pisa-Studie beteiligt. Die schlechten Ergebnisse waren damals ein regelrechter Bildungsschock, sorgten aber gleichzeitig für mehr Anstrengungen in der Bildungspolitik. Das führte in den Folgejahren zu besseren Pisa-Ergebnissen. Die letzte Pisa-Studie wurde 2018 durchgeführt, bei der die Leistungen der deutschen Schüler in den untersuchten Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenz wieder nachließen.