Bildungsforschung: G8 statt G9 - was hat das "Turbo-Abitur" gebracht?
Seit der G8-Reform an Gymnasien sind Abiturientinnen und Abiturienten fast ein Jahr jünger - aber ist das schnellere Abi auch das bessere System? Die Folgen der verkürzten Schulzeit reichen von der Mittelstufe bis zum Studium, wie die Bildungsforschung zeigt.
Die Debatte, ob das acht- oder neunjährige Gymnasium junge Menschen besser auf ihr Abitur vorbereitet, reißt nicht ab. Mehr als zwei Jahrzehnte nach der G8-Reform sind viele westliche Bundesländer jedoch zum System mit der längeren Schulzeit zurückgekehrt - darunter auch Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Dagegen bleiben Hamburg, Bremen und die ostdeutschen Länder weiterhin bei G8. Erst kürzlich hatten Elterninitiativen in Hamburg wieder eine Petition gestartet, um dem Beispiel der Rückkehrer zu folgen, doch der Schulsenator lehnt das bislang ab.
Jüngere Schulabgänger als Ziel
Ausschlaggebend für die G8-Reform war das Alter der Schulabgänger. Ein Jahr weniger am Gymnasium, so die Befürworter, würde bedeuten, dass sie früher anfangen zu arbeiten und Steuern und Sozialabgaben zu zahlen. Auch wären sie am Ende der Schulzeit im internationalen Vergleich nicht mehr so alt. Hier hat die G8-Reform eindeutig funktioniert: Die Abiturientinnen und Abiturienten sind durchschnittlich 10,5 Monate jünger als im neunjährigen System.
Mehr Klassenwiederholungen unter G8
Es sind 10,5 statt zwölf Monate, weil es sich um einen Durchschnittswert handelt. Diejenigen, die ein Jahr wiederholen, setzen den Wert herab: Im Vergleich zu G9 haben mehr junge Menschen unter G8 freiwillig oder wegen schlechter Noten eine Klasse wiederholt, so Jan Marcus, Professor für Angewandte Statistik an der Freien Universität Berlin. In mehreren Studien hat er viele Auswirkungen der Reform untersucht. Der Anteil derer, die ein Jahr wiederholten, stieg nach der Reform um drei Prozentpunkte an. Das betraf vor allem die schulisch schwächeren Kinder und Jugendlichen und Jungen mehr als Mädchen. Gleichzeitig verzeichnete Marcus auch einen leichten Stressanstieg bei den G8-Schülern.
Bessere PISA-Ergebnisse in Klasse 9
Andererseits erzielte die Reform auch positive Auswirkungen, selbst in der Mittelstufe. Da Lernstoff aus dem gestrichenen Jahr auf die jüngeren Jahrgänge verteilt wird, erreichten Neuntklässler laut Marcus in den PISA-Studien tatsächlich bessere Ergebnisse im Lesen, Mathematik und den Naturwissenschaften. Aber auch hier zeigten seine detaillierten Analysen, "dass sich insbesondere die PISA-Werte von Leistungsstärkeren durch G8 verbessert haben, während Leistungsschwächere fast gar nicht von der zusätzlichen Unterrichtszeit durch die G8-Reform profitiert haben".
Auf dem Weg zum Abitur verlieren die besseren Schüler diesen Vorteil allerdings wieder, sodass die Leistungen der G8- und G9-Kohorten nach der Oberstufe fast vergleichbar sind. Nur in Englisch gab es einen Unterschied: Eine frühe Studie zeigte, dass G8-Schüler hier etwas schlechtere Sprachkenntnisse haben.
Altersvorsprung schmilzt im Studium
Zur Frage, ob die Turbo-Abiturienten tatsächlich früher in den Arbeitsmarkt einsteigen, gibt es noch keine belastbaren Untersuchungen. Fest steht, dass ungefähr gleich viele unter G8 und G9 ihr Abitur bestehen. Der erhoffte Effekt, dass die G8-Schüler früher ins Studium starten, greift allerdings nicht unbedingt. Zwei Jahre nach dem Abi ist ein geringerer Anteil von ihnen an der Universität - ein Unterschied von sechs Prozent zu den G9-Absolventen. So schmilzt bei Einigen der errungene Altersvorsprung dahin.
Reform und Re-Reform in vielen westlichen Ländern
In den vergangenen zehn Jahren sind viele westliche Bundesländer zu G9 zurückgekehrt. Das Saarland hat diesen Schritt kürzlich beschlossen, in Baden-Württemberg steht bald eine Entscheidung dazu an. Sollte das Land auch zum neunjährigen Gymnasium zurückkehren wären Hamburg und Bremen die letzten sogenannten alten Bundesländer, die an G8 festhalten. Berlin bleibt ebenfalls bei der kürzeren Gymnasialzeit.
SH: Mehr Zeit zum Lernen geben
In Hamburg fordert eine Elterninitiative nun das G9-Modell zurück, um Kindern "mehr Zeit zum Lernen" zu geben. Dies ist auch das Hauptargument der Länder, die diesen Sprung schon gemacht haben, beispielsweise Schleswig-Holsten: "Mit der Rückkehr zu G9 wollten wir den Kindern wieder mehr Zeit zum Lernen, zum Üben und Vertiefen und Zeit für Persönlichkeitsentwicklung geben", teilte das Bildungsministerium dem NDR mit.
Hamburg: Rabe sieht keine Leistungsunterschiede
Aber der Hamburger Schulsenator Ties Rabe hält dagegen: "In G9-Ländern klagen Schüler ebenfalls über die Schule, das Abitur ist nicht leichter. In Hamburg machen mit G8 sogar deutlich mehr Schülerinnen und Schüler das Abitur als unter G9. Bei der Leistung gibt es nachweislich keine Unterschiede. Und der Zeitunterschied ist minimal: In G9-Ländern gibt es tatsächlich nur 19 Minuten weniger Unterricht am Tag, und das auch nur an den 185 Unterrichtstagen des Jahres."
Hohe G8-Akzeptanz in MV
Auch Mecklenburg-Vorpommern bleibt beim verkürzten Gymnasium. Dort betont das Bildungsministerium, dass bei vielen Eltern eine hohe Akzeptanz für G8 herrsche und das Modell gerade in Zeiten des Fachkräftemangels einen Vorteil darstelle.
Kieler Forscher: An der Strukturschraube drehen reicht nicht
Von Seiten der Bildungsforschung gibt es kein klares Pro oder Contra für die G8-Reform. Der Kieler Bildungsforscher Olaf Köller vom Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik stellte 2020 eine Gesamtanalyse der veröffentlichten Studien zusammen. Sein Fazit: "Hinsichtlich der fachlichen Leistungen bzw. Kompetenzen am Ende der gymnasialen Oberstufe lassen sich keine konsistenten Unterschiede zwischen G8- und G9-Abiturientinnen und -Abiturienten nachweisen." Es gebe auch keine Evidenz dafür, dass G9 grundsätzlich schlechter sei, sagte Köller dem NDR. Generell: "Zu glauben, wenn man an der Strukturschraube dreht, würde irgendwas besser werden, verkennt, dass es eigentlich die Prozesse im Lehr- und Lernbetrieb sind und nicht die Strukturen, die Schülerinnen und Schülern helfen können."
Kosten und Nutzen der Reform
Die G8-Reform hat ihr Kernziel erfüllt - jüngere Abiturienten. Ob sich dies tatsächlich auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar macht und vor allem, wie sich die Reform auf spezifische Gruppen von Schülerinnen und Schülern genau auswirkt, dazu fehlt es an validen Untersuchungen. Aus der Gesamtanalyse der Reform lassen sich keine klaren Handlungsmaßnahmen ableiten.
Aber die einzelnen Studien zu den spezifischen Auswirkungen von G8 enthalten dennoch wichtige Informationen. Wenn zum Beispiel vor allem leistungsschwächere Kinder zunehmend Klassen wiederholen, wirft dies Fragen zur Bildungsgerechtigkeit auf. Auch kann ein Anstieg im schulischen Stress in Zeiten von Krieg und Klimakrise manche Jugendliche an ihre Belastungsgrenzen bringen. Die Frage, ob die Vorteile der G8-Reform so groß sind, dass man ihre Nachteile in Kauf nehmen sollte, wird in den einzelnen Bundesländern weiterhin sehr unterschiedlich beantwortet.
Bundesland | G8 eingeführt | Rückkehr zu G9? |
---|---|---|
Schleswig-Holstein | ab Schuljahr 2008/09 | einzelne Gymnasien ab 2011, flächendeckende Rückkehr zu G9 ab 2019/20 |
Hamburg | ab 2003 | nein |
Niedersachsen | ab 2004 | 2015 |
Bremen | ab 2005/2006 | nein |
Mecklenburg-Vorpommern | G9 von 2000 bis 2005, seitdem G8 | nein |