Mehr Gewalt in Arztpraxen in Norddeutschland?

Stand: 16.08.2024 15:14 Uhr

Aggressives Verhalten bis hin zu körperlichen Angriffen - nimmt das wirklich zu in Arztpraxen? Der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, glaubt das und plädiert für höhere Strafen. Belastbare Zahlen gibt es aber nicht.

von Helene Buchholz

Aggressives Verhalten, verbale Bedrohungen, körperliche Angriffe - das seien wachsende Probleme in Arztpraxen, sagt der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen. Deshalb hat er kürzlich gefordert, dass auch dafür die Strafen verschärft werden. Hintergrund war eine geplante Strafrechtsverschärfung bei Angriffen auf Polizei- und Rettungskräfte.

Dass es wirklich in den vergangenen Jahren zu mehr Übergriffen auf Medizinische Fachangestellte oder Ärztinnen und Ärzte gekommen ist, dazu gibt es keine Zahlen: Die Kassenärztliche Vereinigung Bremen hat zwar eine Umfrage unter ihren Mitglieder gemacht, aber nur einzelne Vorfälle gesammelt und keine Daten erhoben. Bundesweit ist in dieser Woche eine entsprechende Umfrage von der KBV gestartet worden, die Ergebnisse werden für Mitte September erwartet.

Abfrage in Hamburger Praxen: Keine Angriffe, aber rauerer Umgangston

Arzthelferin in einer Praxis. © Screenshot
Medizinische Fachangestellte bekommen oft die Unfreundlichkeit der Patientinnen und Patienten zu spüren.

Bei einer stichprobenartigen Anfrage von NDR Info bei 20 Hamburger Arztpraxen, haben fünf geantwortet: In keiner ist es in den vergangenen Jahren zu körperlichen Angriffen gekommen. Auch verbale Attacken gebe es kaum. Trotzdem, so nehmen es einige wahr, werde der Umgangston rauer und die Ansprüche höher. So schildert es auch die Medizinische Fachangestellte Gaby Schinkel. Sie arbeitet seit 44 Jahren in der Gemeinschaftspraxis Gerlach und Lucassen in Hamburg-Wandsbek. Angst habe sie noch nie gehabt. "Aber die Erwartungshaltungen sind sehr hoch. Und manche werden schon mal ausfallender, aber so oft auch nicht", sagt sie.

Ob eine Strafrechtsverschärfung ihr den Alltag erleichtern würde, bezweifelt sie. Auch ihr Chef, Dr. Joachim Lucassen, ist sich nicht sicher, ob das der richtige Weg ist: "Jemand, der echt auf Zinne ist und durch verschiedenste Faktoren frustriert ist und seinen Frust irgendwie entladen muss, der macht sich über eine mögliche Strafe und die Konsequenzen seines Handelns in der Situation, wo er sich entlädt, sicherlich keine Gedanken." Ein Sicherheitskonzept für seine zwei Hausarztpraxen - wie die Installation von Überwachungskameras - zieht er zurzeit nicht in Betracht. Es widerspreche dem Vertrauensverhältnis zu seinen Patienten.

Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen: Gefühlt unfreundlicheres Verhalten

Von den Ärzten in Niedersachsen gibt es ähnliche Rückmeldungen: Körperliche Übergriffe eher nein, unfreundlicheres Verhalten ja, berichtet Lars Menz, der Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen: "Da kann auch mal der Tresen in der Praxis mit der Hand abgeräumt werden." So etwas käme vor. Aber auch sie hätten keine belastbaren Zahlen dazu. "Es ist ein bisschen eine gefühlte Lage momentan."

Eine Ärztin hält ihr Stethoskop in der Hand © picture-alliance/ dpa/dpaweb Foto: Rolf Vennenbernd
AUDIO: Mehr Gewalt in Arztpraxen im Norden? Forderung nach höheren Strafen (5 Min)

Kieler Gemeinschaftspraxis setzt auf Deeskalation

In der Gemeinschaftspraxis Mettenhof in Kiel setzt Allgemeinmedizinier Justus Hilpert auf das Vertrauensverhältnis innerhalb des Teams: Fühlt sich eine Mitarbeiterin unwohl oder gar bedroht, kann sie das im praxisinternen Computersystem vermerken und sofort können es alle Kolleginnen und Kollegen sehen. Je nach Bedrohungslage kann dann ein Kollege einschreiten. An oberster Stelle steht für Hilpert dabei die Deeskalation: "Das ist vielleicht ein einfaches Schlagwort, aber ist natürlich ganz wichtig. Das versuchen wir dann erst mal."

Chefs stützen Mitarbeitende in brenzligen Situationen

So machen sie es auch in der Gemeinschaftspraxis in Hamburg-Wandsbek, sagt Arzthelferin Schinkel: "Ich versuche die Leute dann zu fragen, was das Problem eigentlich ist, warum sie gerade so schlechte Laune haben." Manchmal erledige sich das dann schon. "Für uns ist es gut, wenn dann hier wirklich mal eine Eskalation ist, dass man dann zum Chef gehen kann und sagen kann, da ist jemand, da muss mal gesprochen werden und dann macht der Chef das auch", berichtet die Arzthelferin.

Vor fünf Monaten ging es in einem Konflikt in der Praxis in Kiel aber so weit, dass die Praxis-Mitarbeiter die Polizei rufen mussten. Denn trotz aller Deeskalations-Versuche hat sich der aufgebrachte Patient nicht beruhigen lassen. Wichtig ist Hilpert, dass unangenehme Erlebnisse im Team immer wieder besprochen werden, auch Monate später. So können sie sich gegenseitig helfen, mit dem Erlebten besser umzugehen.

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NDR Info | NDR Info | 16.08.2024 | 14:00 Uhr

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