Trickbetrüger erbeuten 8,4 Millionen Euro im Norden
Allein das Landeskriminalamt Niedersachsen hat vergangenes Jahr etwa 7.800 Telefonanrufe von Trickbetrügern registriert, die sich als Polizisten ausgeben.
Darunter sind auch die Anrufe eines Täters aus Izmir, der dem NDR exklusive Einblicke in ein kriminelles System gibt, das nur darauf ausgelegt ist, Senioren in Deutschland auszunehmen. Der Mann nennt sich "Herr Jäger" und möchte nur unter falschem Namen über die Masche berichten. Von Izmir aus zockt er nach eigenen Angaben seit Jahren Menschen in Deutschland ab. "Jemanden nur mit der Stimme so weit zu bringen, dass er sein ganzes Erspartes einem anvertraut, ist schon eine Leistung", sagt "Herr Jäger". Er habe bei jeder Tat ein schlechtes Gewissen, betont er - auch das sei der Grund für das Interview mit dem NDR. Der junge Mann wächst in einer deutschen Stadt auf, in einem sozialen Brennpunkt. Seit etwa drei Jahren lebe er in der Türkei, erst in Istanbul, dann in Izmir. Ein Freund habe ihn angeworben, um in den Callcentern "zu arbeiten", sagt "Herr Jäger".
Niedersachsen: 4,5 Millionen Euro Schaden
Betrüger, die sich als falsche Polizisten ausgeben, haben im vergangenen Jahr in Niedersachsen so viel Geld erbeutet wie noch nie: mindestens 4,5 Millionen Euro. 200 Taten waren das laut Landeskriminalamt. "Es ist mittlerweile Bestandteil unserer Polizeiarbeit, diese Fälle jeden Tag abarbeiten zu müssen. Das ist traurig genug", sagt Polizeihauptkommissar Haug Schalk aus Braunschweig. Wie an vielen Orten in Norddeutschland gibt es auch hier ein Kommissariat mit dem Schwerpunkt "Straftaten gegen ältere Menschen". Die Masche der "falschen Polizisten" ist in allen norddeutschen Bundesländern Alltag bei Ermittlungsbehörden. Das Landeskriminalamt Hamburg beziffert den Schaden des vergangenen Jahres auf mehr als 2,1 Millionen Euro, erbeutet in 55 Fällen. In Schleswig-Holstein waren es 1,2 Millionen Euro bei 24 Taten. In Mecklenburg-Vorpommern beläuft sich der Schaden auf mehr als 627.000 Euro, erbeutet durch 29 Taten. In Summe beläuft sich der Schaden in den vier Nordländern somit auf etwa 8,4 Millionen Euro.
Trickbetrug ist Organisierte Kriminalität
Die Trickbetrüger operieren meist aus Callcentern im Ausland, oft aus der Türkei. "Die Täter, von denen wir wissen, die Callcenter aufgebaut haben, hatten eigentlich immer eine kriminelle Karriere im Bundesgebiet", sagt Henning Wilker, Staatsanwalt in Osnabrück. Viele seien abgeschoben worden oder aus Angst vor Verhaftung oder Vollstreckung geflüchtet. In Niedersachsen zählen Polizei und Justiz die Masche der "falschen Polizisten" zur Organisierten Kriminalität. "Herr Jäger", der von Izmir aus Menschen betrügt, ist das sehr bewusst. Und dennoch: Das Geld sei verlockend gewesen, erzählt er. Bei seinem "besten Abschluss" seien mit der Betrugsmasche 25.000 Euro allein "in seiner Tasche" gelandet. Erbeutet in nur fünf Stunden. Ob das stimmt, lässt sich nicht überprüfen.
Einblicke in ein kriminelles System
Wie die Betrugsmasche abläuft und wie potenzielle Opfer ausgespäht werden, auch das schildert "Herr Jäger" im NDR Interview. Die Callcenter seien gut organisiert. Die Betrüger würden in unterschiedlichen Rollen arbeiten: Mit sogenannten "Filterern", "Abschließern" und "Abholern". Der "Filterer" suche nach potenziellen Opfern. Sei eines entdeckt, werde es weitergereicht, an einen "Abschließer". "Der macht dann meist die Sache auch zu", sagt "Herr Jäger". Zumachen, das bedeutet: Die Betrüger bringen das Opfer dazu, Geld einem weiteren Komplizen, den sogenannten "Abholer" in Deutschland zu übergeben. Das Vorgehen und vieles weitere, was Herr Jäger beschreibt, deckt sich mit Erkenntnissen von Ermittlern, wie solche Täter in der Regel vorgehen.
Mehr als 12.800 Betrugsversuche im Norden
Die Auswahl der potenziellen Opfer sei gut organisiert, erzählt "Herr Jäger". Mit einem digitalen Telefonbuch würden Senioren identifiziert. Gezielt suchten die Täter nach Vornamen, die eher ältere Menschen tragen, wie Roswitha, Manfred oder Mechthild. Die Täter spähen über Online-Karten im Internet die Nachbarschaft aus: Sie kennen zum Beispiel Straßennamen, Geschäfte, Bushaltestellen in der Umgebung, auch die Adresse der nächsten Polizeistation. Das sind für die Betroffenen bekannte Informationen, glaubhaft am Telefon mitgeteilt, ausgenutzt für den Betrug. In Norddeutschland zählten die Landeskriminalämter im vergangenen Jahr mehr als 12.800 solcher Anrufe durch falsche Polizisten.
Die Polizei rät: Im Zweifel auflegen
"Wir raten jedem, skeptisch zu sein und im Zweifel einfach aufzulegen“, sagt der Präventionsexperte Hans-Joachim Henschel vom Landeskriminalamt Niedersachsen. Und vor allem: Keine Auskünfte über die eigene finanzielle Situation preisgeben und niemals Geld oder Wertgegenstände an Fremde übergeben. „Man kann glauben, dass einen die Polizei anruft, aber man muss das immer hinterfragen", sagt auch die Braunschweiger Staatsanwältin Julia Meyer. Sie ermittelt seit Jahren in diesem Kriminalitätsbereich und betont, es sei wichtig, die Taten anzuzeigen.
Betroffener übergibt 30.000 Euro
Kriminalhauptkommissar Jörn Memega aus Braunschweig hat Tausende solcher Fälle bearbeitet und weiß um den immensen Vertrauensverlust in die Polizei, den die Betrugsmasche mit sich bringt: "Es ist ein Riesenproblem dieses Vertrauen zurückzugewinnen und aufzubauen. Das kriegen wir nur durch enge Gespräche mit den Geschädigten hin." Jörn Memenga hat in Braunschweig einen Stammtisch für Betroffene ins Leben gerufen, um ihnen bewusst zu machen, dass sie nicht allein sind. Auch Manfred Schmidt (Name von der Redaktion geändert) kommt zum Stammtisch. Der Mann Mitte 70 ist auf die Masche hereingefallen, hat 30.000 Euro verloren. Hart erarbeitetes Geld aus seinem Berufsleben als Unternehmer. Dass er "falschen Polizisten" einen Teil seines Vermögens übergeben hat, lag auch daran, dass ihn die Anrufer über Stunden unter Druck gesetzt hatten, erzählt er: "Ich musste ständig mit denen sprechen, ich sollte nicht auflegen. Erst auf dem Festnetz, dann auf dem Handy. Ich hatte nicht eine Sekunde Zeit mal nachzudenken."
Strafverfolgung zwischen Deutschland und der Türkei
Deutsche und türkische Ermittlungsbehörden arbeiten zusammen, um den Trickbetrügern hinter der Masche habhaft zu werden. Solche gemeinsamen Ermittlungen kosten Zeit, Geld und für deutsche Behörden gibt es dabei auch Grenzen. "Es ist sicherlich oftmals schwierig, sich jemanden ausliefern zu lassen", sagt die Braunschweiger Staatsanwältin Julia Meyer. "Deswegen ist es für uns komfortabel, dass wir die Strafverfolgung an die Türkei abgeben können und dann auch sicher sein können, dass dort etwas passiert, dass dort ermittelt wird, dass es ein Gerichtsverfahren gibt und dass es im idealen Fall sogar dazu kommt, dass die Opfer einen Teil ihres Geldes zurückbekommen." Aber selbst, wenn die Täter gefasst würden, sei das noch keine Garantie für eine Entschädigung.