(116) Coronavirus-Update: Der Weg in die Endemie
Sind wir in einer Endphase der Pandemie - oder sogar schon darüber hinaus? Und was heißt das für den Umgang mit dem Virus? Wie wichtig ist es, die Entwicklung in China im Auge zu behalten? Darüber spricht der Virologe Christian Drosten in der neuen Folge des NDR Info Podcasts Coronavirus-Update.
Gerade erst war der Jahrestag der ersten Todesfälle, die in China im Zusammenhang mit dem Coronavirus gemeldet wurden. Und auch jetzt ist China wieder Thema, nachdem dort nicht nur die strikten Beschränkungen aufgehoben, sondern auch der Reiseverkehr wieder freigegeben wurde und die Infektionszahlen steil ansteigen. Aber es gibt auch ganz andere Baustellen. Die Virusvariante, die die WHO gerade beschäftigt, kommt gar nicht aus China, sondern offenbar aus den USA. Kann sie die Dynamik noch mal verändern, den Übergang in eine endemische Phase ausbremsen?
Über all diese Fragen spricht die Wissenschaftsredakteurin Korinna Hennig in Folge 116 des NDR Info Podcasts Coronavirus-Update mit dem Virologen Christian Drosten, dem Leiter der Virologie an der Berliner Charité.
Die zentralen Themen der Folge im Überblick - per Klick direkt zur Textstelle springen
Welche Rolle können Masken noch spielen?
Entwicklung von Long Covid mit Bevölkerungsimmunität
Evolution bei hohen Infektionszahlen in China
Sinnhaftigkeit von Tests für China-Reisende
Wissenschaftlicher Austausch mit China
Rolle der Sequenzierungen in der aktuellen Pandemiephase
Ausbreitung der Omikron-Variante XBB.1.5
Eigenschaften von XBB.1.5: Immunflucht und Übertragbarkeit
Bevölkerungsimmunität in Deutschland und XBB.1.5
Mögliche Auswirkungen von XBB.1.5 in Deutschland
Wirksamkeit des bivalenten Impfstoffs gegen XBB.1.5
Wie gut ist Deutschland durch die Pandemie gekommen?
Forschungsergebnisse zum Konzept "Vulnerable gezielt schützen"
Korinna Hennig: Wir haben länger nicht gesprochen hier und Ihre Forschung dreht sich ja, wie wir wissen, nicht nur ums Coronavirus. Trotzdem, heute ist Donnerstag, da erscheint normalerweise immer noch der Wochenbericht des Robert Koch-Instituts zum Coronavirus. Gucken Sie den immer noch regelmäßig an?
Christian Drosten: Ja, den schaue ich regelmäßig an. Ich finde es ein bisschen schade, dass der jetzt noch nicht draußen ist, wo wir das hier gerade aufnehmen. Das würde uns helfen.
Hennig: Also nehmen wir Bezug auf die Daten, die wir bisher haben. Ich möchte gern mit dem großen Ganzen anfangen.
Das Ende der Pandemie
Sie haben in der Zeit, in der wir Sie hier nicht gehört haben, zwei längere Zeitungsinterviews gegeben. Eins davon hat an Weihnachten und kurz danach hohe Wellen geschlagen. Denn der Tenor, der da unterm Strich stehen blieb, war: Die Pandemie ist nach Ihrer Einschätzung im Prinzip vorbei. Ist das von mir richtig wiedergegeben?
Drosten: Na ja, was Sie da wiedergeben, ist sicherlich die sekundäre Berichterstattung über das Interview. In dem Interview habe ich eigentlich etwas anderes gesagt. Was ich gesagt habe, ist: "Ich erwarte, dass die jetzt kommende Winterwelle von der Charakteristik eher eine endemische Welle sein wird." Wir können vielleicht gleich noch mal sagen, was das dann heißt. Und dass damit dann die Pandemie vorbei ist, definitionsgemäß.
Also die Pandemie zeichnet sich ja unter anderem dadurch aus, dass sie außersaisonale Wellen macht. Dass wir beispielsweise so etwas wie eine Sommerwelle bekommen von einem Virus, das eigentlich in die Winterzeit gehört. Und das kommt dadurch, dass das Virus sich adjustiert, dass es beispielsweise Immunfluchtmutationen macht, und das wird ihm im endemischen Zustand so nicht mehr gelingen.
Und ich erwarte für diese jetzt kommende Winterwelle, dass wir diesen Zustand danach erreicht haben werden. Und dann werden wir natürlich im Nachhinein und nicht, sagen wir mal als etwas trommelnde Vorankündigung, sagen: "Die Pandemie ist vorbei." Das kann man nicht vorankündigen. Das kann man natürlich nur im Nachhinein betrachten. So steht es im Prinzip auch im Interview.
Jetzt haben das über die Weihnachtsfeiertage aber einige aufgegriffen, sowohl ein paar Politiker als auch ein paar Medien, und gesagt: "Drosten erklärt die Pandemie für beendet." Ich glaube, alle, die mich bisher kommunizieren gehört haben, wissen, dass ich solche, sagen wir mal, forschen Dinge eigentlich nicht in der Öffentlichkeit sage.
Hennig: Das heißt, die Betonung liegt auf "im Prinzip vorbei". Also könnte man, um das jetzt trotzdem noch mal ein bisschen festzunageln, sagen: Das ist jetzt die Übergangsphase zum Ende hin.
Drosten: Ja, genau. Also, ich will keine Ankündigungen machen oder irgendwas für beendet erklären. Aber ich kann natürlich sagen, was ich erwarte. Und das ist meine Erwartung, dass wir demnächst, in ein paar Monaten sagen werden: Im Nachhinein betrachtet, war das die erste endemische Welle dieses Virus. Und damit ist die Pandemie vorbei.
Hennig: Der Winter war ja bislang weniger schlimm, als viele das befürchtet hatten. Ich glaube, Sie gehörten auch dazu, dass Sie gesagt haben, das kann im Winter noch mal richtig hochgehen. Was war das Entscheidende, das anders war, als man gedacht hat?
Drosten: Es sind eigentlich so ein paar interessante Sachen passiert, wenn wir an den Sommer zurückdenken, an die Aussagen oder die Betrachtungen, die man so im Sommer hatte. Ich glaube, das Auffälligste war diese Herbstwelle. Wir hatten ja eine BA.5-Sommerwelle und dann kam ab Oktober eine Herbstwelle, eigentlich schon ab Ende September. Das war überraschend früh für mich. Ich hätte gedacht, dass das länger dauert.
Und dann kam dieser sehr warme Oktober. Wir hatten im Prinzip einen Sommer im Oktober, und das hat sicherlich dazu beigetragen, dass diese Herbstwelle nicht in den Winter reingelaufen ist und Rückenwind bekommen hat, sondern eher vorzeitig wieder blockiert wurde. Und wir haben sicherlich in dieser Sommer- und Herbstwelle zusammen - einige Leute schätzen, dass da so 70 Prozent der deutschen Bevölkerung Kontakt mit BA.5 hatten in dieser Zeit, einige sogar zweimal.
Und das hat natürlich insgesamt dazu geführt, dass sich jetzt noch mal eine ganz gute Bevölkerungsimmunität gegen BA.5 aufgebaut hat. Nur, was so plötzlich diese Herbstwelle zum Stillstand gebracht hat, ist wahrscheinlich dieser Temperatureffekt gewesen.
Und dann ist es nicht mehr in die Gänge gekommen, denn da gibt es so gewisse Netzwerkeffekte, die dann unterkritisch werden. Ich glaube, dass wir davon bis heute noch profitieren. Also unsere Bevölkerung ist jetzt gut durchimmunisiert, nicht absolut durchimmunisiert, also wir sind nicht steril immun, wir können natürlich weiterhin SARS-2 auch als die Inzidenzhäufungen oder Wellen sehen. Und das werden wir wahrscheinlich auch noch mal.
Aber die Ruhe, die wir jetzt haben, die kommt wahrscheinlich einerseits natürlich dadurch, dass die Grundvoraussetzung ist, dass wir sehr rezent, also vor Kurzem, viele Infektionen in der Bevölkerung hatten, also mit der Herbst- und Sommerwelle. Und dass wir aber auch eben nicht mit einer hohen Infektionstätigkeit in die kältere Jahreszeit reingelaufen sind.
Masken verlieren epidemiologische Bedeutung
Hennig: BA.5, noch mal zur Erklärung, ist eine dieser Omikron-Subvarianten, die zuletzt hier Dominanz erreicht hat. Was das bedeutet für alles, was da jetzt kommt, da reden wir gleich noch mal ein bisschen drüber. Trotzdem noch mal eine Nachfrage: Pandemie für beendet erklären kann man nicht so einfach, es wäre sehr schön. Es gibt eben keinen Freedom Day, an dem die Pandemie schlagartig zu Ende ist.
Nach dieser Aussage, die da transportiert wurde - Sie hatten es eben angedeutet: Die haben Politiker auch aufgegriffen. So hat zum Beispiel Justizminister Marco Buschmann gefordert, nun alle Maßnahmen fallen zu lassen. Sind wir da jetzt schon auf dem richtigen Weg, bestimmte Maßnahmen, die noch übriggeblieben sind, nun nach und nach wegzunehmen? Maskenpflicht, Isolationspflicht …?
Drosten: Ja, das ist ein etwas komplizierteres Thema. Es gibt einerseits die epidemiologische Betrachtung des Gesamtgeschehens. Da müssen wir sicherlich im Laufe des Interviews hier auch noch ein paar Sachen dazu sagen. Und dann gibt es diese gesellschaftlich-regulativen Überlegungen. Jetzt haben wir Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln, und einige Länder nehmen die jetzt weg, andere tun es noch nicht. Und die Zeitpunkte sind auch nicht gleich. Nur ich glaube, ich kann da jetzt auch wenig sagen, ob ich irgendwas gut oder schlecht finde. Ich kann nur versuchen, den Hintergrund zu erklären.
Der Hintergrund ist sicherlich so, wir haben jetzt ein sehr hochübertragbares Virus, viel höher übertragbar als damals am Anfang. Und der Grund, warum wir eine relative Ruhe haben, ist die Bevölkerungsimmunität. Und die trägt jetzt sicherlich am meisten zur Eindämmung der Virusverbreitung bei. Früher war das nicht so, da gab es gar keine Bevölkerungsimmunität. Ein relativ weniger gut übertragbares Virus - aber die gesamte Kraft des Virus kam auf die Straße, wenn man dagegen nicht was getan hat.
Das hat man beispielsweise durch Kontaktmaßnahmen gemacht und durch Maske tragen und andere physikalische Maßnahmen. Masken tragen hat sicherlich einen ganzen Teil beigetragen zur Gesamtkontrolle der Übertragungen. Und wenn man sich jetzt vorstellt, der Sockel ist viel höher geworden, also die Säule der Übertragungen, der Zahlenwert der Übertragbarkeit, und dennoch haben wir weniger Infektionen.
Das kommt natürlich daher, dass die Bevölkerungsimmunität schon so eine Grundleistung erbringt. Und diese Grundleistung hat den größten Anteil an der Übertragungskontrolle, da können ja die Masken jetzt nur wieder den gleichen Absolutbetrag dazu beitragen, dass es noch etwas besser kontrolliert wird. Und dieser Absolutbetrag wird aber anteilsmäßig an der Gesamtkontrollkraft viel weniger ausmachen als früher. Darum ist also erst mal prinzipiell zu erwarten, dass die Masken weniger nutzen als früher.
Aus Rücksicht Maske tragen
Man kann sich das auch noch mal über einen anderen Weg erklären. Es wird mehr infektiöses Virus ausgeschieden bei diesen Viren als bei früheren Viren. Eine Maske kann aber immer nur gleichviel Virus aufhalten. Da kann man sich noch mal wieder dran klarmachen, die Maske wird nicht so effizient mehr sein.
Jetzt muss man es aber vielleicht ein bisschen von der anderen Seite betrachten. Also um das noch mal zu sagen, die Masken werden jetzt zu der gesamtgesellschaftlichen Übertragungskontrolle deutlich weniger beitragen als früher, schon gar nicht, wenn man sie nicht überall in Innenräumen trägt. Die jetzigen Regeln sind ja so, dass man sie im Prinzip nur noch in öffentlichen Verkehrsmitteln trägt oder tragen muss. Und die meisten Leute tun das auch nur noch da. Und da kann man sich noch mal wieder klarmachen, das ist ja nur ein kleiner Zusatznutzen der Masken, und der auch nur an ganz selektierten Orten. Das kann ja für die gesamte Übertragungskontrolle gar nicht mehr viel helfen.
Und um das regulative Hintergrundgebäude zu verstehen, muss man sich aber klarmachen, es gibt einfach Leute, die müssen ja auch Zug fahren. Die müssen auch von A nach B kommen. Und denen möchte man ja diese unangenehme Situation ersparen, dass sie sagen: "Wenn ich mich infiziere, bin ich schlecht dran. Ich habe eine Krankheit und ich sollte mich nicht infizieren. Ich will mich schützen. Aber alles, was ich tun kann, ist: Ich selber kann mir eine Maske aufsetzen und werde dann vielleicht noch schief dabei angeguckt." Das möchte man diesen Leuten eben ersparen.
Und in einer Sozialsituation wie im Zug, wo man nicht anders kann, als stundenlang da zu sitzen mit ganz vielen Leuten, ist es dann doch ein ganz guter sozialer Gedanke, wenn alle sich aus Rücksicht eine Maske aufsetzen. Und ich glaube, dass daher vor allem diese Regeln noch kamen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, also zum Schutz der Vulnerablen, wie man das manchmal so verklausuliert sagt.
Hennig: Das heißt, da muss man aufpassen, dass man keinen Missverständnissen aufsitzt. Das eine ist die epidemiologische Betrachtungsweise: Wie viel wirkt eine allgemeine Maskenpflicht auf das Gesamtgeschehen? Und dann das Risiko für jeden Einzelnen. Und bei Risikogruppen, bei Vulnerablen ist es mit Omikron, weil das so ansteckend ist, möglicherweise eben nicht damit getan, sich selbst zu schützen, wie viele sagen: "Kannst ja eine Maske aufsetzen", sondern da können wir einfach mit zwei Masken mehr tun. Also sowohl ich trage eine als auch der, der mir gegenübersitzt und ein hohes Risiko hat, schwer zu erkranken an Omikron, trotz Impfung, den kann ich so mitschützen.
Drosten: Genau. Das ist eben die Rücksichtsüberlegung, die man dabei hat. Das ist doch etwas sehr Schönes, gesellschaftlich Adhärentes, Kooperatives, was man sich vielleicht auch klarmachen sollte, statt sich darüber aufzuregen, dass man nur noch im Zug eine Maske tragen muss. Es gibt eben auch Leute, die sich nicht infizieren wollen, können, sollen. Und auf die nimmt man da einfach mal Rücksicht. Und warum soll man das denn nicht tun? Warum soll man sich denn immer nur aufregen?
Hennig: Jetzt sagen viele aber trotzdem: "Wie lange sollen wir das denn noch machen? Und wir hatten doch auch vorher Viren, die für diese Menschen gefährlich sind, wie Influenza zum Beispiel." Das spielt jetzt natürlich auch noch mal eine Rolle in dieser Phase im Winter. Wir stochern allerdings so ein bisschen im Nebel, wie hoch die Infektionszahlen sind. Können Sie ungefähr sagen - im Moment ist die Inzidenz noch so hoch: "Wir machen das eine Weile, aber irgendwann lässt man das möglicherweise auch weg"?
Drosten: Also politisch-regulativ finde ich es im Moment noch sinnvoll, beispielsweise allein noch mal mit einem anderen Hintergedanken. Wir haben natürlich nicht die letzte Gewissheit, dass wir jetzt in der, sagen wir mal, endemischen Situation angekommen sind. Es könnte ja doch auch noch Überraschungen geben. Wir haben jetzt gerade in den USA einen neuen Virustyp, der ein bisschen mehr übertragbar ist. Also wenn man jetzt gleich alle Maßnahmen komplett fallen lässt, dann hat man natürlich auch einen gewissen Übungseffekt und einen gewissen Bereitschaftseffekt in der Bevölkerung damit aufgegeben. Und das ist vielleicht jetzt im Moment, in dieser jetzigen Winterzeit, noch mal ein bisschen risikoreich.
Gleichzeitig kann man natürlich verstehen, dass viele Leute, die ihr Alltagsleben ganz normal führen und sich jetzt weniger noch mit dieser Pandemie beschäftigen wollen, dann nicht mehr so tief darüber nachdenken und sich fragen: "Was soll das denn eigentlich jetzt noch? Jetzt gerade hier im Zug." Aber wie gesagt, das ist eben diese Überlegung: Die Rücksicht auf andere, und dann ist es die grundsätzliche Bereitschaft.
Wenn es hart auf hart kommt, könnte man doch noch mal, und müsste man dann auch noch mal, zurückfahren mit Maßnahmen. Auch unter anderem deswegen, weil wir eben diese gewissen Aufholeffekte anderer Atemwegserkrankungen im Moment haben. Die Influenza-Saison stellt sich im Moment zum Glück nicht ganz schwer dar, gar nicht eigentlich, ziemlich normal, aber das kann sich auch noch mit kälterer Temperatur plötzlich anders entwickeln. Und dann sind es die Arbeitsplatz-Abwesenheiten, die zählen, die dann das Zünglein an der Waage sind. Und wenn es hart auf hart käme, dann müsste man regulativ politisch auch noch mal ein bisschen zurückfahren. Aber im Moment sieht es ja zum Glück nicht danach aus.
Weniger Long Covid mit zunehmender Immunität?
Hennig: Das heißt, dass die Infektionszahlen im Moment trotzdem noch relativ hoch sind, das sehen wir ja nicht mehr unbedingt an den Tests, weil sich nicht mehr so viele Menschen testen. Aber wir sehen es eigentlich im individuellen Erleben, weil jeder Menschen kennt, die vielleicht gerade eine Corona-Infektion hinter sich hatten oder aktuell haben. Da spielt natürlich auch noch mal der Aspekt Long Covid rein - weil Sie gerade Arbeitsplatz-Abwesenheiten nannten -, also wie viele Menschen tatsächlich in dieses Risiko reinlaufen. Das war ja unser letzter Stand, das wird schon mit zunehmender Immunität und Impfung kleiner. Ist das der aktuelle Erkenntnisstand?
Drosten: Genau. Also ich glaube, man kann das ein bisschen so zusammenfassen: Long Covid gibt es, ist ein ernsthaftes Problem, hat viele Facetten, viele Ausprägungsformen, scheint aber mit zunehmendem Impffortschritt und mit zunehmender Infektionserfahrung in der Schwere abzunehmen. Das ist das eine.
Insbesondere nimmt es in der Häufigkeit ab, dass es also überhaupt dazu kommt, auch wieder mit der zunehmenden Infektionserfahrung in der Bevölkerung. Und da kann man sich schon drauf berufen, darauf verlassen, dass Long Covid - so ungünstig das für die Betroffenen jetzt ist -, dass die Zahl der Betroffenen pro Zeit in der Zukunft weniger werden wird.
Sorgenkind China
Hennig: Sie haben eben schon die Variante, die in den USA unterwegs ist, angesprochen. Ich würde ganz kurz, bevor wir darauf kommen, gerne noch in ein anderes Land blicken, das auch die Schlagzeilen beherrscht und das auch die Wissenschaft schon länger auf dem Zettel hat, nämlich China. Wir haben über Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr gesprochen. Auf europäischer Ebene sind allerdings auch wieder Maßnahmen im Reiseverkehr ein Thema geworden, nämlich bei der Einreise aus China, nach dem Ende der strikten Corona-Politik dort.
Und weil Flugreisen jetzt wieder erlaubt sind, häuft sich die Sorge, dass sich dort eine Variante entwickeln könnte, die für uns noch mal die Dynamik verändert und gefährlicher werden könnte. Wir haben gelernt: Viele Infektionen, viele Übertragungen, gleich hohe Wahrscheinlichkeit, dass das Virus mutiert. Es macht Kopierfehler, zufällig, und dann setzt sich das durch, was für das Virus von Vorteil ist. Ist diese Sorge nicht also berechtigt?
Drosten: Das ist eine Sorge, die allerdings auf einer sehr allgemeinen Auffassung basiert. Das muss man sich klarmachen, eine Sorge ohne einen konkreten Anhalt im Moment. Das macht die Sorge nicht weniger berechtigt. Aber man muss schon sagen, es ist dadurch jetzt im Moment nicht so, dass man von einer Akutsituation sprechen kann.
Hennig: Jetzt ist aber der Druck auf das Virus immer dann besonders hoch, wenn eine hohe Bevölkerungsimmunität in irgendeiner Form da ist. In China hat man zwar anfangs viel geimpft, aber die Booster-Quote ist relativ schlecht. Und es gab bisher - also in den letzten Wochen schon wieder, aber davor - so gut wie keine Infektionen oder sehr wenig Infektionen in China. Relativiert das das nicht ein bisschen, also zufällig optimierte Varianten müssen sich gar nicht so durchsetzen?
Drosten: Genau. Man muss sich vielleicht kurz klarmachen, was ist eigentlich mit dem Virus passiert? Das Virus ist weltweit auf Bevölkerungen getroffen mit einer zugrunde liegenden Immunität, die inzwischen relativ gleich ausgeprägt ist. Und das Virus hat seine Antworten darauf gefunden. An bestimmten Stellen im Spike-Protein hat es Mutationen gemacht, die dazu führen, dass es mit dieser Grundimmunität immer noch existieren kann. Mehrere Viruslinien sind inzwischen zu den gleichen Lösungen gekommen, also die gleichen Mutationen sind in parallel evolvierenden Viruslinien entstanden, weil diese Mutationen einfach in der jetzigen Bevölkerungsimmunität gut funktionieren. Wir sprechen hier von konvergenten Mutationen.
Und nun kommt dieses Virus … Es sind Nachkommen dieser Virus-Untervarianten, also wir haben in China vor allem die BF.7-Variante und BA.5.2-Variante. Das sind ganz normale Virusvarianten, die wir bei uns hier auch im Moment in der Mischung drin haben. Und diese Varianten sind im Prinzip vortrainiert auf diesen Immune Escape gegen unsere Bevölkerungsimmunität. In China gibt es weniger Bevölkerungsimmunität, das Virus wird sehr stark übertragen. Sehr starke Übertragungsaktivität macht viel Mutationsaktivität.
Das heißt, wir bieten der Selektion mehr Mutationen an zur Auswahl, ob die nicht auch funktionieren. Und es werden hier jetzt einige von denen in der chinesischen Bevölkerung wieder funktionieren, die bei uns nicht funktioniert haben, weil dort weniger Immunität ist, weil bestimmte Personen in China jetzt erstmalig infiziert werden. Und dort können Viren Mutationen machen, die sie sich anderswo nicht leisten konnten, die vielleicht dazu führen, dass die Übertragbarkeit von so einem Virus dann wieder steigt.
Jetzt geht das Virus zum nächsten Menschen, der ist vielleicht grund-immun. Jetzt kommt die Entscheidung: Macht das Virus auf dem Boden der gefundenen Übertragbarkeitsmutation jetzt eine neue Escape-Mutation, um zu bleiben, oder krepiert es? Dann werden wir dieses Virus nie wieder sehen. Das kriegen wir nicht mit. Das Virus wird sich nicht weiterverbreiten. Und die Gesamtheit der Viren bleibt bei den alten Varianten.
Und diese Entscheidungsprozesse, die innerhalb von Sekunden ablaufen, so dass innerhalb von einer Übertragungsgeneration entschieden wird, ob sie bleiben oder nicht, das können wir jetzt im Prinzip in Echtzeit beobachte - wenn wir das könnten. Also es ist technisch nicht möglich, aber es passiert gerade jetzt im Moment, in diesen Wochen. Und wir werden in wenigen Wochen anhand der Sequenzen der Viren sehen, ob da etwas Neues entstanden ist. Und in wenigen Monaten, sagen wir mal zwei, drei Monate später, bis zum Sommer und Herbst, werden wir auch funktionelle Daten aus der Virologie haben, die zeigen, ob jetzt chinesische, neu entstandene Virusvarianten ein besseres Immune Escape oder bessere Übertragbarkeit machen. Im Moment gibt es keinerlei Hinweis darauf.
Es ist nur so. Das Virus ist im Prinzip weltweit in die gleiche Situation geraten, um das noch mal zusammenzufassen. In dieser Situation hat es sich ein bisschen arrangiert durch diese konvergenten Mutationen. Und es bekommt aber jetzt in China wieder die Chance, noch mal zu neuen Lösungen, zu anderen Lösungen zu kommen, um mit der menschlichen Immunität umzugehen. Und da ist tatsächlich eine gewisse grundsätzliche Gefahr, also vielleicht so, wenn man sich das vorstellt, wie so ein Kinder-Murmelspiel, wo man durch Kippen eines Bretts die Murmeln in Löcher balanciert. Und dann hat man es fast schon geschafft.
Es ist fast schon alles gesettlet, und dann kommt jemand und haut von unten noch mal gegen das Spielbrett, und ein paar von den Kugeln fliegen wieder hoch. Dann kann es sein, dass am Ende, wenn diese Kugeln wieder zur Ruhe gekommen sind, dass sie dann in anderen Löchern liegen. Und dieser Prozess, der läuft da in China gerade ab. Der ist unwägbar. Und darum gibt es eine grundlegende Sorge darüber, aber eben keinen konkreten Anhalt.
Der chinesische Impfstoff CoronaVac
Hennig: Welche Rolle spielt da der chinesische Impfstoff CoronaVac, der Totimpfstoff, der ja weniger effektiv ist als unsere mRNA-Impfstoffe?
Drosten: Ja, der ist weniger effektiv. Aber wenn man den dreimal gibt, dann ist er schon auch gar nicht so schlecht. Und es geht da ja jetzt auch darum, dass man den auch ein viertes Mal gibt und so weiter. Was es dort, glaube ich, im Moment noch nicht so gibt, sind an BA.5 angepasste, bivalente Impfstoffe. Das wäre schön, wenn man die in China hätte.
Aber ich glaube, das größte Problem ist die Imbalance in der Vakzine-Verfügbarkeit oder Vakzine-Verimpfung. Die alten Menschen in China haben im letzten Jahr weniger Impfdosen bekommen als die jüngeren. Man hat sicherlich in China stark darauf fokussiert, dass die arbeitsfähigen Personen erst mal gut geschützt sind, hat sicherlich weniger Kampagne gemacht für die Impfung der Älteren. Gleichzeitig haben die Älteren auch die Gefahr nicht gesehen, weil sie natürlich um sich herum gar keine Infektionen gesehen haben mit der Eindämmungspolitik, und waren dann jetzt einfach auf eine gewisse Art überrascht davon. Und das ist ja das, was auch die großen Zahlen von Verstorbenen jetzt macht, dass eben gerade die Älteren so schlecht versorgt sind.
Sinnhaftigkeit von Tests für China-Reisende
Hennig: Jetzt sagen die europäischen Politiker, wenn wir mal bei dem Bild von dem Murmelspiel bleiben wollen: Wir wollen nicht, dass die Murmeln dann im letzten Moment doch noch in andere Löcher rutschen und das Geschrei groß ist. Es geht ja bei der Einreisepolitik, bei den Maßnahmen im Flugverkehr nicht darum, Infektionen am Einwandern zu hindern, weil wir selbst genug Infektionstätigkeit hier haben, sondern eben um diese Virusvarianten, die entstehen könnten. Wie viel Sinn macht es denn da, Reisende aus China zu testen? Weil: Die Maschen für das Virus sind ja relativ groß. Wenn ein PCR-Test 48 Stunden alt ist, kann ich unbemerkt längst infiziert sein und an Bord eines Flugzeugs andere anstecken - und zack, ist die Variante ohnehin im Land. Oder?
Drosten: Ja, na klar, so ist das. Man muss sich klarmachen, wenn jetzt in China eine neue, sehr stark übertragbare Variante entsteht, dann wird das einen Monat oder sechs Wochen brauchen, bis die sich in China sehr weit verbreitet hat. Und dann erst ist ja praktisch jeder Einreisende mit dieser neuen Variante infiziert, wenn sie oder er infiziert ist. Und dann wird man das mit Sicherheit finden bei einer Sequenzierung am Flughafen. Nur, diese Sequenzierung, das dauert ja Tage, bis das Ergebnis da ist. Man kann die Leute ja nicht so lange aufhalten. Und man wird sowieso nicht immer alle Positiven erwischen. Die erste Reihe der Selektion ist ein Antigentest, und da gehen ja viele durchs Netz.
Deshalb: Die vereinte Kraft vieler Einreiseländer zu sequenzieren wird sehr schnell dazu führen, dass mögliche Virusvarianten identifiziert werden. Es wird eine gewisse Wartezeit geben, bis diese Daten verarbeitet sind. Wo das passiert, wo das erste Mal so eine Variante nachgewiesen wird, in welchem Land, das können wir vorher nicht sagen. Denn das liegt an dem Zufall des Virus, wo gerade so eine Variante vor allem auftritt. Also wenn wir jetzt große, starke Verbindungen zwischen einer bestimmten chinesischen Stadt und einem Land in Europa hätten, dann würde man praktisch an diesem Flughafen mehr von den Varianten aus dieser Stadt sehen. Nur wissen wir, dass in China gerade in dieser Stadt die Variante als Erstes auftaucht? Das kann man ja alles nicht sagen.
Hennig: Das heißt, es ist mehr Monitoring und Überwachung aus wissenschaftlicher Sicht, die da sinnvoll ist, was die Sequenzierung von Stichproben angeht, aber eben nicht das Verhindern.
Wissenschaftlicher Austausch mit China
Drosten: Also es ist sicherlich in allererster Linie eine politische Entscheidung, das zu machen. Es ist in zweiter Linie sicherlich eine Reaktion auf eine gewisse Intransparenz in China. Es ist einfach nicht so, dass aus China jeden Tag ganz viele Hundert Sequenzen veröffentlicht werden in den internationalen Datenbanken, sondern da ist relativ wenig zu sehen. Wir müssen eigentlich damit rechnen, dass das eher so in großen Paketen veröffentlicht wird im Rahmen von wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die aus China zu dem Thema kommen werden.
Und die chinesische Wissenschaft ist da schon territorial. Die wollen schon ihre eigenen Daten selber publizieren. Man kann natürlich sagen: mit gutem Recht - aber auf der anderen Seite hat sich eben über die Pandemie jetzt die Kultur eingestellt, die Daten frühzeitig zu teilen, bevor man sich in der Wissenschaft Publikationsvorteile gesichert hat. Und da sehen wir im Moment nicht unbedingt die gleiche Aktivität aus China. Und aufgrund dieser Unsicherheit will man natürlich diese Datenlücke dann eben hier bei uns schließen und kann das sicherlich auch.
Hennig: Das heißt, verstehe ich Sie richtig, nicht nur auf politischer Ebene ist der Austausch nicht besonders gut und intransparent, sondern auch in Ihrem Bereich, auf wissenschaftlicher Ebene, mit China?
Drosten: Ja, ich glaube, dass es immer möglich ist, dass eine Gruppe hier in Deutschland und eine Gruppe in China miteinander arbeitet. Nur bei so etwas, was ja jetzt vielleicht so ein bisschen wie so ein nationales Gut angesehen wird, also die Kenntnis über Sequenzen, da ist eine andere Frage zu beantworten, nämlich: Wird das jetzt freimütig in die Öffentlichkeit gestellt, bevor man daraus eine wissenschaftliche Studie gemacht hat, die auch eben mit Credits kommt?
Und ich glaube nicht, dass es so einfach möglich ist für eine chinesische Gruppe, die da an der Selektionsstelle sitzt, also eine Gruppe, die die Sequenzen gerade bekommt und dafür verantwortlich ist, die frischen Sequenzen zu veröffentlichen, dass man denen erlauben wird, das freimütig zu tun. Also ich glaube schon, dass da eine gewisse Art von Forschungs- und Verwertungspolitik dahintersteht.
Rolle der Sequenzierungen in der aktuellen Pandemiephase
Hennig: Was die Sequenzierung angeht, da sieht man manchmal in sozialen Medien Klagen, auch von Wissenschaftlern international, aus den USA zum Beispiel, dass viele Forschungsgelder für die Pandemie wieder zurückgefahren wurden und überhaupt gar nicht mehr so viel sequenziert wird. Wie sehen Sie das? Wäre das noch viel mehr nötig?
Drosten: Nein. Ich finde das schon richtig, wie das jetzt ist. Also die Sequenzierung in der heißen Zeit, das war schon etwas, das ist nützlich gewesen, um was zu verfolgen. In manchen Ländern müsste man sagen, es hätte auch gereicht, zehn Prozent von dem zu sequenzieren, was sequenziert wurde, da hätte man die gleiche Information rausgekriegt. Für Deutschland gilt das so nicht. Deutschland hat das, glaube ich, ganz adäquat gemacht, wenn auch ein bisschen spät angefangen.
Und insgesamt ist es so, dass es wichtiger ist, dass eine ganz große geografische Fläche, wie etwa ganz Europa zum Beispiel, mit einer gewissen Regelmäßigkeit und mit einer gewissen Geduld und Standvermögen weiter sequenziert. Aber die Zahl der Sequenzen pro Woche ist jetzt nicht so entscheidend.
Also was wir ja sehen wollen, ist einfach, dass die Viruskomposition in einer bestimmten großen geografischen Fläche, die in der Regel größer ist als ein Land, dass die sich über eine relativ kurze Zeit, zwei Monate oder so, verändert, dass also eine gewisse Virusvariante sich durchsetzt und die anderen verdrängt. Und da zählt es gar nicht so stark, ob man jetzt pro Woche hunderttausend oder tausend Sequenzen macht. Man kriegt im Prinzip denselben Aussagewert raus.
Nur bei den tausend Sequenzen kann das auch mal noch eine Woche später sein, dass man das sieht. Und das kann man, glaube ich, in den jetzigen Zeiten durchaus verantworten. Und da muss man natürlich sagen, das Sequenzieren ist nicht nur finanziell teuer, sondern das hat eine gewisse Kapazitätsgrenze. Die gesamte biomedizinische Forschung existiert von der Sequenzierung. Das ist eine ganz elementare Grundtechnik. Und wir hatten zu Spitzenzeiten in der Pandemie durchaus auch das Problem, dass in den Sequenzier-Zentren die anderen Wissenschaftler, die an anderen Krankheiten oder auch an biologischen Phänomenen arbeiten, Schlange stehen mussten und nicht drankamen.
Abwassermonitoring ist sinnvoll
Hennig: Jetzt gibt es ja noch ein anderes Werkzeug, um zu sequenzieren, für die Überwachung des Pandemiegeschehens immer noch und dann später des endemischen Geschehens, nämlich, das Abwasser zu überprüfen. Da gibt es jetzt ein deutschlandweites Pilotprojekt, 20 Standorte in Deutschland sind da regelmäßig dabei. Auch bei der Flughafenfrage spielt das eine Rolle, dass man sagen kann, man kann zum Beispiel das Abwasser aus den Toiletten in den Flugzeugen überwachen. Ist das ein wichtiges Werkzeug, das immer mehr zunimmt, weil es unabhängig davon ist, ob die Leute sich freiwillig testen lassen?
Drosten: Ja, das ist natürlich wichtig. Das hat jetzt nicht so eine starke Auflösungskraft, also man kann nicht den einzelnen Patienten damit verfolgen. Deshalb ist es, sagen wir mal, aus dieser Arbeitslinie des öffentlichen Gesundheitswesens ausgeschieden. Aber es hat natürlich einen wichtigen Gesamtinformationswert, also die Populationsüberwachung. Und das hat sich während der Pandemie herausgestellt, vor der Pandemie wusste man das nicht. Einige haben da auch nicht so ganz dran geglaubt, es war auch nicht eingeübt. Und jetzt, während der Pandemie, haben Forschungsprojekte einfach gezeigt, dass das ein gangbarer, guter Weg ist, der ist auch auf andere Viren, vor allem des Gastrointestinaltrakts und des Respirationstraktes, übertragbar. Und das wird in Zukunft sicherlich auch verstärkt gemacht werden.
Hennig: Das heißt, da geht es um die Varianten. Aber man kann natürlich auch am Abwasser sehen, wenn die Zahlen sich plötzlich wieder verändern und Inzidenzen ansteigen.
Drosten: Genau. Es kommt immer ein bisschen darauf an, wo man die Proben nimmt. Es gibt auch so Effekte, dass nach einem Regenguss, wenn man also wirklich aus der Kanalisation arbeitet oder aus der Kläranlage, dann hat man da Einwaschung von allerhand Virusmaterial. Also es gibt solche Effekte, aber die kann man auch auf bestimmte technische Art und Weise ausgleichen. Und man kriegt eben für größere Veränderungen so einer Viruspopulation durchaus auch eine Information aus dieser Art von Testung.
Neue Omikron-Variante XBB.1.5
Hennig: Jetzt haben wir eben schon sehr theoretisch über die Evolution gesprochen. Und Sie haben es eingangs gesagt, wir haben aber auch ein ganz konkretes Beispiel, an das sich verschiedene Fragen knüpfen, nämlich in den USA: eine Sub-Sub-Sub-Variante von Omikron sozusagen, XBB.1.5 heißt sie, hat sich dort stark ausgebreitet. Das ist ja ein bisschen unübersichtlich geworden, welches Virus von welchem abstammt, mit welchem zusammenhängt. Dieses ist aber eins, das tatsächlich international ein bisschen Besorgnis hervorruft, weil es sich in den USA so stark verbreitet.
Einmal die Eckdaten, die WHO hat gestern eine vorläufige Risikobewertung abgegeben: Mittlerweile ist es in 38 Ländern nachgewiesen, zu mehr als 80 Prozent allerdings nach wie vor in den USA. Dann gibt es noch rund acht Prozent aus dem Vereinigten Königreich und gut zwei Prozent in Dänemark, um mal so beispielhafte Hausnummern zu nennen. In den USA, hieß es zuletzt, ist XBB.1.5 für ungefähr ein Drittel der Infektionen verantwortlich. Wie schnell geht das aktuell, gemessen in einer Verdopplungszeit, kann man das abschätzen? Also wie lange dauert es, bis sich der Anteil verdoppelt?
Drosten: Es wird im Moment von einer Verdopplungszeit von neun Tagen gesprochen. Ich weiß nicht, ob sich das so aufrechterhalten wird. Ich würde schätzen, dass die in Wirklichkeit etwas länger ist. Aber grundsätzlich, wenn so etwas zugrunde liegt, würde man von einer Schätzung bei Anfang bis Mitte Februar landen, bis in den Vereinigten Staaten diese XBB.1.5 Variante dominant ist.
Hennig: Lassen Sie uns mal angucken, wer genau dieser Kandidat ist. Es geht ja offensichtlich darum, dass dieser Subtyp so ansteckend ist wie keins der Viren bisher. Das ist der Abkömmling einer Rekombinante, nämlich von XBB.1. Rekombinante, vereinfacht gesagt, heißt: Da haben sich zwei Varianten getroffen, beide eine Zelle infiziert und Erbgut ausgetauscht. Kann man das so sagen?
Drosten: Ja, das kann man so sagen. Diese Rekombinanten kennen wir schon lange. Also es gibt ganz viele rekombinante Formen. Und genau wie auch in dem jetzigen Beispiel ist es eigentlich nie so gewesen, dass diese rekombinanten Formen sich plötzlich weiterverbreitet haben, sondern in der Regel haben die eher so ein bisschen vor sich hingedümpelt und sind dann meist auch wieder verschwunden, also von anderen verdrängt worden.
Die Rekombinationsformen, die es gegeben hat, waren dann meistens zwischen ganzen Varianten, also beispielsweise Alpha mit Delta oder Delta mit Omikron. Da gibt es Riesenlisten von Rekombinationsformen, die immer zirkuliert haben, die eine Zeit geblieben sind, die zum Teil sehr lange geblieben sind, aber nie Dominanz erreicht haben. Und auch in diesem Fall ist es so, dass die Rekombination direkt gar nicht zu einer dominanten Form geführt hat.
Hennig: Woran lag das?
Drosten: Es ist einfach nicht zwangsläufig so, dass wenn man zwei Genome zusammentut, dass dabei dann was Besseres rauskommt als vorher. Es entsteht nur, sagen wir mal, eine leicht verschobene Startbasis für die Evolution. Wir haben danach nicht nur die Ausgangslinien, die beide immer noch existieren, also die parentalen Linien, sondern wir haben jetzt eine zusätzliche Linie etabliert, und die evolviert eben auch weiter.
Und von all diesen drei - vorher waren es zwei verschiedene Linien, jetzt haben wir auf einmal drei Linien, die zwei Ausgangslinien und die rekombinante Linie - die evolvieren weiter. Und auf jeder Basis können sich jetzt noch Mutationen obendrauf setzen. Und irgendwann kann es dann so weit sein, dass wir doch neue Eigenschaften kriegen, wie zum Beispiel bessere Übertragbarkeit.
Und das ist jetzt hier auch so gewesen. Da gibt es mehrere Zwischenstufen zwischen dem eigentlichen Ereignis der Rekombination. Das Ausgangsvirus, die Rekombinante, die war schon Anfang des Jahres 2022 erstmalig nachweisbar, die hat sich aber eigentlich erst mal nirgends durchgesetzt. Und es gab dann Zwischenstufen. Eine der Zwischenstufen ist beispielsweise in Singapur im Herbst aufgetreten und ist dort auch schon mal dominant geworden. Und jetzt sieht man in den USA eine weitere Evolutionsstufe davon.
Es ist immer noch der alte rekombinante Hintergrund. Aber wie gesagt, die Rekombination per se ist nichts Gefährliches, sondern das, was da jetzt in der Evolution noch dazugekommen ist, das hat jetzt dazu geführt, dass sich zunächst mal im Hintergrund der amerikanischen Bevölkerung eine erhöhte Übertragbarkeit eingestellt hat gegenüber den Varianten, die sonst so da in der Gegend gerade zirkulieren. Das ist alles, was wir im Moment wirklich darüber sagen können.
Hennig: Jetzt gibt es aber schon ein bisschen mehr Anfangserkenntnisse in der Frage, warum das so ist, woher diese Übertragbarkeit kommt. Da geht es um einen Mechanismus, der schon eine Weile im Verdacht stand, damit zu tun zu haben, wenn ich das richtig im Kopf habe, nämlich wie das Virus in die Zelle reinkommt, über den ACE-2-Rezeptor. Das ist ein Enzym an der Oberfläche vieler Zellen, und der macht die Musik. Da hat sich das Virus noch mal optimiert an der Stelle im Spike-Protein, die dort andockt. Richtig?
Drosten: Ja, genau. Es hat im Prinzip etwas zurückgewonnen. Wir haben verschiedene Mutationen, die in diesem Virus aufgetreten sind, die sind auch in anderen Viren übrigens aufgetreten. Und alles das, was wir jetzt hier sagen, das können wir auch für mindestens zwei andere Viruslinien sagen, wo die gleiche Mutation schon mal gewesen ist, was jeweils nicht dazu geführt hat, dass diese Linien dominant geworden sind.
Aber es gibt eine Stelle im Oberflächenprotein, das ist die Stelle 486. Da haben wir normalerweise ein Phenylalanin. Da hat es verschiedene andere Aminosäuren an dieser Stelle gegeben, die jeweils dann dazu geführt haben, dass da ein Immune Escape entstanden ist. Das heißt, diese Stelle 486 ist eine Stelle, die von Antikörpern ganz gut gezielt wird, ganz gut erkannt wird. Und wenn jetzt das Virus an der Stelle eine Mutation macht, dann führt es dazu, dass die Antikörper schlechter binden, das ist also Immune Escape. Jetzt führt aber eine Mutation an 486 auch dazu, dass der Rezeptor schlechter angesprochen wird, also dass die Passgenauigkeit des Virus an den Rezeptor verringert ist.
Das ist also ein Kompromiss, den das Virus da schließen muss. Es zahlt Fitness-Kosten, wie wir in der Evolutionsterminologie sagen. Also das Virus gewinnt zwar Immune Escape, und damit gewinnt es eine Fitness, eine Übertragbarkeitskomponente in dieser immunen Bevölkerung, allerdings der Rezeptor passt jetzt nicht mehr so gut. Und das ist ein Preis, den das Virus zahlt, also die intrinsische Fitness, die ist dadurch reduziert.
Wir hatten im Frühjahr oder im letzten Jahr, als die Variante aufkam, immer mal gesagt, das eine ist so: Wie breit sind die Reifen am Auto? Und das andere ist, wie stark der Motor ist. Das heißt jetzt, das Virus hat breitere Reifen bekommen, aber einen schwächeren Motor. Und jetzt ist die Frage, fährt es damit auf diesem Matschweg besser, also in dieser Bevölkerungsimmunität? Der Matsch ist die Bevölkerungsimmunität, die das Virus vom Fahren, vom Übertragenwerden abhält.
Eigenschaften von XBB.1.5: Immunflucht und Übertragbarkeit
Jetzt ist es an dieser Stelle, an 486, in diesem amerikanischen Virus, und wie gesagt, in noch mindestens zwei anderen Viren unabhängig auch schon mal dazu gekommen, dass da eine bestimmte Aminosäure sich eingestellt hat, die an der Stelle nicht so leicht zu evolvieren ist. Das kommt einfach daher, dass der genetische Code, der besteht immer aus drei Buchstaben, in vielen Situationen von einer zur anderen Aminosäure übergehen kann, indem man einen der drei Buchstaben austauscht. Das ist eine einzelne Mutation.
Für diesen Austausch jetzt aber, für einen Austausch von Phenylalanin nach Prolin, brauchen wir zwei Nukleotid-Austausche. Und das ist rein statistisch weniger wahrscheinlich. Manche Leute argumentieren deshalb, dass es möglicherweise dadurch erst jetzt dazu gekommen ist, dass das Virus jetzt erst diese Ausprägungsform an dieser Position entwickelt hat.
Und diese Ausprägungsform, dieses Prolin, führt einerseits dazu, dass der Immune Escape immer noch erhalten bleibt, aber andererseits, dass die Passgenauigkeit an den Rezeptor ein gutes Stück wieder hergestellt wird. Also mit anderen Worten: Das Auto hat jetzt immer noch die breiteren Reifen, aber der Motor ist auch wieder ein bisschen stärker geworden, um in dem Bild zu bleiben. Und das mag schon dazu führen, dass jetzt dieses Virus sich, angefangen in den nordöstlichen Vereinigten Staaten, stärker verbreitet als die anderen Viren.
Hennig: Wir haben alle auf den Autovergleich gewartet! Um es noch mal zusammenzufassen, weil, das ist ja einigermaßen komplex und auch ein bisschen unübersichtlich: Diese Mutationen, die da bisher stattgefunden haben an der Position 486, haben eben bisher für Immunflucht gesorgt, und das mit dem Preis einer geringeren Fitness, also nicht so gute Übertragbarkeit im Vergleich, bezahlt. Jetzt ist aber noch eine andere zusätzliche Mutation an der Stelle entstanden, die offensichtlich diese Übertragbarkeit verbessert hat.
Drosten: Genau, es ist eine andere Ausprägungsform der Mutation an dieser Stelle.
Hennig: Okay, das heißt in den Alltag übertragen: Man braucht womöglich noch weniger Viren, um infiziert zu werden? Praktisch gedacht. Also wenn ich in einem ungelüfteten Raum mit einem Infizierten bin, dann werde ich vielleicht schneller angesteckt?
Drosten: Jetzt wollen Sie die Brücke schlagen zwischen einer Aminosäuremutation an 486 und dem Alltag.
Hennig: Genau. Über den Autovergleich.
Drosten: Ich glaube, jetzt hilft uns der Autovergleich nicht mehr weiter. Also das ist das Problem. Wir haben tatsächlich ein paar theoretische Phänomene. Wir haben durchaus Laborbeobachtungen, die auch genau das zeigen. Die zeigen: Die Rezeptorbindung wird besser bei erhaltener Immunflucht. Diese zwei Dimensionen können wir in Laborexperimenten unterscheiden. Das heißt aber noch lange nicht, dass sich deswegen jetzt die gesamte Situation grundlegend verändert hat und wir wieder zurückgehen in die Pandemie. Das wäre ja die Alltagsinterpretation. Sondern da gibt es ganz viele Zwischenstufen.
T-Zellen schützen weiter
Also zunächst mal muss man sagen, es gibt die Zwischenstufe der medialen Berichterstattung, der Aufmerksamkeit, auch der Aufmerksamkeit natürlich in der Wissenschaft. Und da muss man eben sagen, die Daten, die da jetzt sehr schnell generiert werden in wissenschaftlichen Vorpublikationen, die werden natürlich dann auch gleich in die sozialen Medien und in die formalen Medien gespült und dort interpretiert. Und auch die Art, wie diese Daten präsentiert werden von den Wissenschaftlern, finde ich inzwischen ein bisschen dramatisch.
Das sieht für mich fast so aus, als würde man da irgendwie jetzt nach der möglichst gefährlichen Mutante suchen und sich fast ein bisschen freuen, wenn man die gefunden hat. Und vielleicht vergisst man dabei in der Diskussion das zu wiederholen, was man eigentlich immer wiederholen muss, und was auch für dieses Virus jetzt gilt: Denn das, was wir da in Form von Antikörpern sehen, von Immunflucht gegen neutralisierende Antikörper und von Rezeptorbindung, das sind alles nur Teile des Gesamtbildes. Also bei der Immunität muss man sagen: Die Antikörper sind natürlich sehr, sehr wichtig.
Aber gegen die schwere Erkrankung schützen vor allem auch die T-Zellen, und die sind durch all das hier gar nicht betroffen. Und deswegen müssen wir hier nicht von der Grundbiologie her davon ausgehen, dass wir jetzt plötzlich wieder eine ganz schwere Krankheit haben, die sich in der Bevölkerung rasend verbreitet, sondern wir haben zunächst mal einen Krankheitserreger. Und das ist ein großer Unterschied.
Vor allem, je weiter wir in die endemische Situation kommen und je robuster die Immunität ist, das heißt, je größer die Vorerfahrung mit dem Virus in der Bevölkerung ist, desto sicherer können wir uns sein, dass hier keine schwere Krankheit grassiert, sondern erst mal ein übertragbares Virus. Das müssen wir auseinanderhalten.
Die Übertragbarkeit steigt
Die zweite Sache, die wir uns auch noch mal vergegenwärtigen müssen, ist, dass so eine Erhöhung der Rezeptoraffinität, wie wir sagen, also wie gut geht das Virus an den Rezeptor ran, nicht direkt dazu führt, dass das Virus beispielsweise eine stärkere Verbreitungsfähigkeit in die Lunge hat. Oder dass es dazu führt, dass mehr infektiöses Virus ausgeschieden wird. Das sind keine Zwangsläufigkeiten, das kann dazu führen. Und das Gesamtbild, was wir im Moment haben, suggeriert ein bisschen schon, dass zumindest mal die Übertragbarkeit in der Gesamtbetrachtung steigt. Denn sonst würde das Virus nicht zunehmen im Nordosten der USA und wahrscheinlich bald in den gesamten Vereinigten Staaten und wahrscheinlich auch mit etwas Verzögerung dann bei uns. Das wird sicherlich passieren. Da bin ich mir relativ sicher, dass das Virus kommen wird.
Nur, wir müssen uns anschauen, was haben wir denn überhaupt für Hinweise darauf, dass das Virus als eine gefährliche Krankheit kommt, also eine erneut wieder gefährlich gewordene SARS-2-Infektion? Gefährlicher, also ich will nicht sagen, dass das inzwischen alles ganz harmlos ist. Aber es hat doch sehr viel von der Krankheitslast verloren. Also da haben wir im Moment weder die wirklichen Evidenzen aus dem Labor. Das Labor schweigt dazu. Da haben wir im Moment keine Möglichkeit, das zu hinterfragen oder zu studieren. Und wir haben auch noch nicht die epidemiologischen Daten. Also die nordamerikanischen Aufzeichnungen werden uns da als Erstes was sagen. Aber im Moment sind die noch zu unscharf. Im Moment kann man da noch nichts draus machen, auch wenn ich das Gefühl habe, wenn ich mir die Daten anschaue, da ist schon was dran.
Also gerade in den zwei großen Melderegionen in den Vereinigten Staaten im Nordosten, die am stärksten schon betroffen sind, wo das Virus schon über 70 Prozent der Population ausmacht, da scheint es mir schon so zu sein, dass die Krankenhausaufnahmen sich verstärken. Da kann man sagen, beispielsweise in den zwei am stärksten betroffenen Regionen, da haben wir in der letzten Woche zur vorletzten Woche verglichen eine Steigerung von sieben Prozent in der einen Region gesehen, oder fast acht Prozent, und in der anderen Region knapp fünf Prozent. Das ist aber noch der Anfang der Entwicklung, denn das Virus ist jetzt gerade auch erst dabei, dominant zu werden.
Das heißt, eine Woche vorher war das wahrscheinlich im Bereich von 50 Prozent. Zwei Wochen vorher war es im Bereich von 30 Prozent. Und das war eine Zeit, da konnte das Virus noch gar nichts beitragen zu einer erhöhten Krankenhausaufnahmerate, weil es einfach zu wenige Patienten sind, die dieses Virus überhaupt gekriegt haben. Und weil es ja so zwei Wochen dauert, dass jemand ins Krankenhaus muss nach Infektion: Wenn wir jetzt diese Woche 70 Prozent haben, dann kann man sagen, in zwei Wochen werden wir erst sehen, ob hier sich was verändert hat.
Tatsächlich sehen wir aber schon jetzt, dass sich was verändert hat, dass jetzt schon mehr Leute ins Krankenhaus kommen, das ist eigentlich ein bisschen früh. Und wenn wir dann weiterschauen durch die Meldedaten, dann sehen wir, es gibt durchaus Melderegionen, in denen der Zuwachs der Krankenhausaufnahmerate gerade im Moment noch viel größer ist von Woche zu Woche.
Da gibt es durchaus Regionen, da gibt es plus 17, plus 18 Prozent im Vergleich zur Vorwoche. Aber diese Virusvariante ist dort noch gar nicht richtig angekommen. Und das ist natürlich so eine Sache, da muss man dann sagen, das scheint ein genereller Effekt zu sein. Anscheinend nehmen gerade im Moment generell die Krankenhausaufnahmen in den USA zu, von Leuten mit Respirationstrakt-Erkrankungen und auch einem positiven Covid-Test. Die können aber auch noch ein anderes, zum Beispiel Influenza oder andere Viren zusätzlich haben.
Wahrscheinlich keine grundlegende Änderung des Krankheitsbildes
Und das sind einfach jetzt noch keine Daten, anhand derer man sagen kann, da kommt was auf uns zu in Form von Krankheitslast. Ich würde fast sagen, man muss noch mindestens zwei Wochen warten, um das mit Überzeugung sagen zu können. Im Moment bin ich mehr der Ansicht, dass wir durchaus in einigen Gegenden eine Zunahme der Krankenhausaufnahmen haben. Wir wissen aber auch, wir hatten ja in großen Bereichen in den USA über die Weihnachtszeit und über den Jahreswechsel diese sehr, sehr kalten Temperaturen, was natürlich dann immer allgemein zu einer erhöhten Krankenhausaufnahme führt durch allerhand Infektionserkrankungen, die dann zirkulieren. Und der Bevölkerungshintergrund hat Covid. Also bringt man auch Covid mit ins Krankenhaus.
Aber wir haben noch keine genaue Sortierung der Covid-Fälle, wie wir das früher hatten, zum Beispiel in den englischen Daten. Da konnte man dann ja ganz genau sagen: Dieser Fall hat Delta. Und dieser Fall hat Alpha. Und jetzt können wir das auseinanderhalten, weil wir das im Krankenhaus auf die Virusvariante getestet haben und können sagen: Delta, die müssen häufiger ins Krankenhaus nach der PCR-Diagnose als die Leute mit Alpha. Diese Auflösung haben die Daten im Moment nicht.
Darum bin ich da im Moment noch ein bisschen konservativ und muss mich an das Grundprinzip halten in meinen Überlegungen, dass die Bevölkerungsimmunität immer robuster wird, je mehr Infektionserfahrung in der Bevölkerung ist und dass es recht unwahrscheinlich ist, dass ein Virus, das sich auf dem Boden der Vorgänger, und das ist hier zum Glück der Fall … Wir haben keine ganz neue Situation, sondern ein Virus, das eine nächste Evolutionsstufe auf dem Boden der Vorgänger ist, es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass wir hier eine grundsätzliche Änderung des grundlegenden Krankheitsbildes haben.
Andere Bevölkerungsimmunität in Deutschland
Hennig: Das heißt, wenn wir bei diesen verschiedenen Faktoren, die für so einen Effekt verantwortlich sein könnten - mehr Hospitalisierung -, also statistische Effekte, andere Viren, die dann noch mit reinspielen und dann eben auch die große Frage, tut sich da was in der Pathogenität des Virus (die noch völlig offen ist), wenn wir uns da noch mal die Immunflucht angucken, die die Variante macht: Sie haben gesagt, da gibt es ja ein Verwandtschaftsverhältnis. Also XBB.1, die Linie, von der XBB.1.5 abstammt, ist ein Nachfolger von BA.2. BA.2 hatten wir in Deutschland nicht so lange. Wir hatten BA.1 am Anfang des Jahres, dann so im Frühjahr viel BA.2, und im Sommer hat sich dann aber BA.5 hier durchgesetzt. In den USA ist das aber anders.
Drosten: Ja, das ist etwas anders. Das stimmt. Also wir haben im Moment in der Viruspopulation in den USA auch BA.5.-Nachkommen. Aber das hat nicht die großen Wellen gemacht, also man muss es eher so sehen. Bei uns hatten wir ja relativ wenig Infektionserfahrungen in der Bevölkerung, weil wir relativ lange Kontrollmaßnahmen hatten. Unsere Politik war relativ vorsichtig und human. Insgesamt hatten wir in Deutschland deutlich weniger Übersterblichkeit und viel weniger Todesfälle als die USA.
Und wir haben ein bisschen dann, wie das eigentlich auch sein sollte, auf dem Boden einer Impfung in der Bevölkerung natürlich auch unsere Infektionserfahrung nachgeholt, im Sommer und im Herbst. Wir hatten in Deutschland eine starke BA.5-Welle im Sommer und eine starke BA.5- und schon erste Generation von Nachkommen-Welle im Herbst und deswegen eine sehr rezente Infektionserfahrung in der Bevölkerung bei uns, während es in den USA eine ganz starke, komplett freilaufende Omikron-BA.1-Welle gewesen ist. Und danach hatten wir eine BA.2, BA.2.12.1-Welle im Frühjahr und in den Sommer hinein. Es gab eine kleine Sommerzunahme, aber keine Sommerwelle, würde ich sagen. Und keine Herbstwelle in den USA, sodass auch das natürlich noch mal ein Unterschied ist zwischen diesen beiden Bevölkerungen.
Man liest das zum Beispiel so ein bisschen im Subtext bei dem, was die WHO schreibt, dass es in der Vergangenheit nicht immer so gewesen ist, dass Virusvarianten von einem Erdteil sich im anderen durchgesetzt haben. Also so eine gewisse Vorsicht, dass gesagt wird: "Na ja, was in den USA zirkuliert, muss nicht in Europa ankommen, muss nicht bei uns dominant werden." Ich will es mal auf Deutschland betrachten, weil die Bevölkerungen sich da doch differenzieren. Und da könnte man schon jetzt zu der Überlegung kommen, in den USA sind viele Leute das letzte Mal im letzten Frühjahr infiziert worden und kriegen jetzt dann wahrscheinlich eine XBB.1.5-Infektion, sind also grundsätzlich empfänglicher, weil die letzte Infektion länger her ist.
Mögliche Auswirkungen von XBB.1.5 in Deutschland
Und viele Leute haben sich da auch jetzt auch nicht mehr impfen lassen, das ist nicht mehr so ein gesellschaftliches Thema, während bei uns doch noch ganz schön Achtsamkeit auf das Thema ist wegen der Sommer- und Herbstwelle. Alle haben jetzt gemerkt: Viele haben sich jetzt infiziert, die meisten sogar in einer der beiden Wellen. Das heißt, bei den meisten ist die letzte Infektion vielleicht nur gerade drei Monate oder höchstens sechs Monate her. Die sind deswegen bisschen besser geschützt, so könnte man argumentieren. Und vielleicht würde sich deswegen eine XBB.1.5-Infektion gar nicht so stark bei uns manifestieren. Das ist wahrscheinlich eine richtige Überlegung.
Allerdings, man muss zwei Sachen unterscheiden. Das eine ist, wird XBB.1.5 dominant, also wird das die Mehrheit oder die Gänze der Viruspopulation irgendwann bestimmen? Zweite Überlegung, wie viele Gesamtinfektionen gibt es dann überhaupt? Also wie wirkt sich das als Welle aus? Und ich denke, wenn man so die Zahlen anschaut, die relative Übertragbarkeit gegenüber anderen Virusvarianten, dann kann man festmachen … Ich habe mir so mal die Zahlen angeschaut und rausgeschrieben und ein bisschen gerechnet. Da kann man schon sich praktisch darauf verlassen, dass XBB.1.5 auch bei uns dominant werden wird. Einfach, weil die relative Übertragbarkeit von diesem Virus gegenüber den anderen momentan zirkulierenden Viren so viel größer ist, dass man zum Schluss kommt: Das ist eigentlich ungefähr so wie damals, als Omikron kam oder als Delta kam. Da war auch der Vorteil so in dieser Größenordnung, also muss das dominant werden.
Nur, das heißt längst nicht, und hier kommen wir jetzt vielleicht so ein bisschen auch in die Überlegung "Endemischer Zustand und ist die Pandemie vorbei", dass wir deswegen eine neue Rieseninzidenzwelle sehen, sondern das heißt zunächst mal nur, das Virus wechselt sich, wir kriegen eine neue Variante. Wir kriegen möglicherweise auch einen nochmaligen neuen Serotypen. Das wäre für die Impfstoffselektion in der Zukunft entscheidend.
Nur in der jetzigen Bevölkerungsimmunität mit der auch sehr rezenten Infektionserfahrung in der deutschen Bevölkerung könnte es gut sein, dass das keine hohe Welle wird, sondern eigentlich eben das, was wir für diesen Winter erwarten, nämlich eine erste endemische Winterwelle von Covid-19. Denn, und das ist vielleicht auch vielen Leuten nicht klar, dafür, dass wir das haben, dass das Virus immer saisonal kommt, muss das Virus sich weiterentwickeln. Das muss es sowieso tun.
Und wir sehen interessanterweise mit der Entstehung dieser neuen Virusvariante jetzt das, was wir ein bisschen auch immer erhofft haben, nämlich, dass der nächste große Evolutionsschritt wieder einer ist, der logisch auf den letzten folgt und nicht wieder so ein erratischer Sprung ist, wie wir das zum Beispiel hatten von Wildtyp nach Alpha. Da ging es in eine Evolutionsrichtung. Dann kam aber Delta, das war eine ganz andere Richtung. Dann kam Omikron, das war wieder ein ganzes Stück zurück Richtung Alpha.
Und diese saltatorische Evolution, diese sprunghafte Evolution, die muss erst mal zur Ruhe kommen, damit wir sagen können: Wir gehen in den endemischen Zustand. Und hier, wo wir jetzt XBB.1.5 haben, was sich eindeutig auf BA.2-Vorgänger aufbaut … Und übrigens, BA.5 baute sich auch auf BA.2-Vorgänger auf. Da muss man schon konstatieren, das geht in die richtige Richtung. Das ist jetzt also eine Evolution immer in dieselbe Richtung. Eins baut auf dem anderen auf. Und genau das ist eigentlich, was wir erwarten im endemischen Zustand, dass wir Ruhe reinkriegen in die Situation, weil die Bevölkerungsimmunität, die sich an der letzten Virusvariante ausgebildet hat, auch für die jetzt nächste Variante noch eine Gültigkeit hat, denn diese nächste Variante ist nur ein Abkömmling der letzten Variante.
Eine erste endemische Winterwelle?
Hennig: Das macht es dann ja im Prinzip beherrschbarer. Das heißt, weil Sie eben zum Beispiel die potenziellen Auswirkungen in Deutschland skizziert haben: Wenn man jetzt davon ausgeht, XBB.1.5 würde hier keine erneuten hohen Zahlen verursachen, keine neue Welle. Es könnte aber einfach diese relative Hochinzidenzphase - oder vielleicht ist das zu hoch gegriffen, aber die starke Übertragungstätigkeit, die im Winter in einer endemischen Phase dann ja auch immer stattfinden wird -, jetzt einfach noch einmal verlängern.
Drosten: Genau. Ich rechne durchaus damit, dass wir noch mal eine Inzidenzzunahme bekommen, so etwas wie eine Winterwelle. Die Frage ist: Bleibt die im Winter? Das ist, glaube ich, das Entscheidende. Also werden wir die, wenn wir jetzt mal rechnen, bei der momentanen Wachstumsrate, die das Virus in Europa hat, die Daten sind sehr unklar eigentlich, ganz große Konfidenzintervalle. Aber man könnte projizieren, dass das Virus bei uns so Anfang März dominant sein könnte. Das würde mich überhaupt nicht überraschen.
Und dass wir dann zum März hin, also zum Ende der Winterwelle, noch mal eine Inzidenzzunahme kriegen, das ist im Prinzip alles fein. Da würden wir uns nicht groß drüber Sorgen machen müssen. Das wäre noch Teil einer saisonalen Winterwelle. Dann ist irgendwann Ostern, es wird wärmer und wir haben erst mal einen ruhigen Sommer. Und im Winter wird wahrscheinlich dann ein direkter Nachkomme von XBB.1.5 die nächste Wintersaison verursachen. Damit müssen wir schon rechnen. Und das wird auch wieder eine Inzidenzwelle geben, wieder eine saisonale Welle. Das wäre das gute Szenario, von dem ich im Moment optimistischerweise ausgehe.
Hennig: Jetzt haben Sie "im März" gesagt. Ich sitze ja hier in Hamburg, da muss man dazusagen, März hört sich immer so frühlingshaft an, was die Temperaturen angeht, aber zumindest im Norden ist das dann oft noch sehr winterlich. Von daher passt das da ganz gut zusammen.
Drosten: Das stimmt, aber in Hamburg ist es ja auch so, wenn einmal die Sonne rauskommt, sitzen sie auch alle gleich mit der Sonnenbrille auf der Straße.
Hennig: Oder im Cabrio.
Drosten: Genau.
Wirksamkeit des bivalenten Impfstoffs gegen XBB.1.5
Hennig: Jetzt haben Sie eben die Bevölkerungsimmunität angesprochen. Das ist ja eine Hybridimmunität, die hoffentlich viele, die meisten von uns haben. Sie sind geimpft und haben sich dann vielleicht schon mal angesteckt. Ein- oder zweimal. Und das schafft dann die Grundvoraussetzungen, auf denen man vielleicht XBB.1.5 ein bisschen gelassener entgegensehen könnte. Aber dazu gehört auch die Impfung. Da schließt sich die Frage an, auch da gibt es ja schon ein paar wissenschaftliche Vorveröffentlichungen: Wie groß ist denn die Immunflucht mit Blick auf die Impfstoffe, die wir haben, also den bivalenten Impfstoff, der an Omikron BA.5 angepasst ist?
Drosten: Ich glaube, erst mal, um das noch mal abzuholen, müsste man sagen, der Grund, warum es jetzt im Moment so einen bivalenten Impfstoff gibt, ist genau das, was ich vorhin erläutert habe. Man hatte bisher diese unsichere, saltatorische Evolution. Das Virus kann jederzeit aus einer neuen Ecke des Ursprungsstammbaums, der Ursprungsdiversität kommen. Und man ist dann plötzlich näher an dem alten Wildtyp dran als an neueren Omikron-Varianten.
Um das abzusichern, hat man bis jetzt bivalente Impfstoffe verimpft, wo auch noch der Wildtyp, wie man sagt, also Prä-Omikron-Virus, abgedeckt war. Da waren in dem Impfstoff im Prinzip zwei Serotypen drin. Und es könnte gut sein, dass XBB 1.5 jetzt einen neuen, dritten Serotypen einläutet, weil der schon sehr starke Immunflucht zeigt gegenüber der BA.5-, BA.4-, BA.2-typischen Immunität. Das würde mich nicht wundern. Und das würde tatsächlich für die Impfstoffselektion eine Auswirkung haben. Insofern, als dass man dann irgendwann sagen würde: "Okay, jetzt gehen wir auf den neuen Serotypen für eine neue Saison."
Also ich bin mir sicher, dass Impfstoffhersteller sich das im Moment schon sehr genau anschauen und sich wahrscheinlich schon darauf vorbereiten, XBB.1.5-basierte Impfstoffe zumindest mal in die Planung, ins Forschungslabor zu geben, um schon mal sich vorzubereiten auf einen Wechsel des Impfstoff-Antigens. Da wird man natürlich viel länger noch warten müssen, ob das alles so kommt, wie man das im Moment spekuliert.
Also ich bin hier jetzt im Spekulationsbereich, aber das ist meine Erwartung. Und jetzt kann man sich dann die Daten anschauen und kann einfach vergleichen, was denn passiert, wenn man Leute mit einem bivalenten Impfstoff impft und wenn man Leute mit einem normalen Impfstoff impft. Und da gibt es zum Beispiel eine Studie, die ist im "New England Journal" erschienen, die basiert noch nicht auf XBB.1.5, sondern auf dem Vorläufer XBB, was in Ordnung ist, weil die Immunflucht im Prinzip gleichgeblieben ist.
Wir haben ja vorhin gesagt: Was sich bei 1.5 geändert hat, ist, der Motor ist größer geworden, die Reifen sind immer noch die gleichen, die Immunflucht ist die gleiche geblieben. Die Übertragbarkeit, die intrinsische Fitness, ist wahrscheinlich noch mal ein bisschen erhöht durch die stärkere Rezeptorbindung. Und hier kann man jetzt sagen: Leute, die nur einen normalen Booster bekommen haben, bei denen kann man tatsächlich, wenn man vergleicht zwischen einem B.1-Virus, also einem alten Wildtyp-Virus, und XBB, dann kann man bei XBB keinerlei Neutralisationsaktivität mehr nachweisen.
Mit dem bivalenten Impfstoff nachboostern
Das heißt übersetzt als medizinische Empfehlung: Die Leute, die sich noch gar nicht nachboostern lassen haben, die sollten das jetzt schon tun, gerade, wenn sie älter sind, wenn sie keine Infektion hatten. Also Leute, die älter sind, die keine Omikron-Infektion in diesem Jahr hatten - in dem Jahr 2022! Bei mir ist der Jahreswechsel mental noch nicht abgeschlossen ...
Hennig: Bei vielen.
Drosten: Genau. Also die in dem Jahr 2022, gerade in der zweiten Jahreshälfte keine Infektion hatten, die sollten sich jetzt spätestens die neue Booster-Impfung holen, die Kombinationsimpfung, wo auch die BA.5-Komponente drin ist. Da gibt es in Deutschland zwei Impfstoffe. Alle Erwachsenen können sich damit impfen lassen. Und bei den Leuten, die sich jetzt nachgeboostert haben, also die jetzt schon einen BA.5- und Wildtyp-Kombinationsimpfstoff bekommen haben, sieht es jetzt eigentlich nicht so schlecht aus.
Da muss man sagen, auch hier gibt es einen starken Abfall der Neutralisationsaktivität, wenn man zwischen Wildtyp und XBB vergleicht, der ist 26-fach. Das ist ein sehr starker Abfall. Das ist mehr als damals, als das erste Omikron kam. Aber wir haben hier mit dem Wildtyp verglichen. Wenn wir zwischen BA.5 und XBB vergleichen, also was ist eigentlich jetzt seit der Herbstwelle schlechter geworden durch die wahrscheinlich kommende Winterwelle, da ist der Neutralisationsverlust im Bereich von Faktor fünf ungefähr. Das heißt, jemand, der vorher einen Neutralisationstiter von eins zu 150 hatte, der hat jetzt einen von eins zu 30. Der wird aber immer noch schützen. Wohlgemerkt nicht gegen irgendeine Erkrankung, aber sehr sicher gegen eine schwere Erkrankung.
Hennig: Neutralisationstiter müssen wir vielleicht einmal noch erklären.
Drosten: Genau, das ist die Verdünnungsstufe eines Serums im Labortest bis hin zu der, bei der dieses Serum noch in der Lage ist, das Virus davon abzuhalten, Zellen zu infizieren, im Labortest. Das ist es hier tatsächlich, was wir messen. Und eine Gelegenheit, um das hier jetzt noch mal zu wiederholen: Was wir damit nicht messen, ist die gesamte Schutzkraft, die unser Körper gegen die Erkrankung entwickelt hat. Diese Schutzkraft basiert ganz wesentlich auf einem ganz anderen zusätzlichen Schenkel des Immunsystems, das sind die T-Zellen, das zelluläre Immunsystem. Was wir in diesem Labortest überhaupt nicht messen können.
Hennig: Also Neutralisationstiter misst nur Antikörper.
Drosten: Genau.
Wird XBB.1.5 auch in Deutschland dominant?
Hennig: Gut. Wir haben die Szenarien so ein bisschen ausgeleuchtet, was denn passieren könnte, wenn XBB.1.5 sich dann irgendwann in Deutschland verbreitet. Vereinzelt ist es ja auch schon nachgewiesen worden, aber eben noch sehr selten. Dafür, dass es ja offenbar so ansteckend ist, ist es noch nicht richtig hier angekommen. Gehen Sie denn aber auf jeden Fall davon aus, dass das hier ankommen wird? Ist das so wahrscheinlich, das Szenario, oder kann es auch anders kommen?
Drosten: Ja, das ist auch wieder so eine prophetische Frage, wo es schwierig ist, was zu sagen und wo es besser ist, wenn man einfach mal den Datenhintergrund beleuchtet, sodass man sich selber einen Schluss daraus machen kann. Und da ist ja jetzt die entscheidende Frage, was wissen wir jetzt? Also wir wissen ein bisschen was über die Verbreitungsgeschwindigkeit. Da kann man sagen: "Ja, der Wachstumsvorteil ist so groß, dass man erwarten muss, dass das kommen wird. Und es ist auch schon in Europa. Und in den paar europäischen Ländern, wo wir noch gute Daten haben, sieht es auch nach einem Wachstum aus, das ungefähr in der gleichen Größenordnung liegt wie in den USA." Das ist so die eine Sache, die habe ich gerade schon mal erwähnt.
Man kann auch eine andere Vergleichsrechnung einschlagen. Das ist, dass man sich fragt, diese Neutralisationstiter-Verluste, die man jeweils hat von einer Variante zur nächsten, wie waren die eigentlich in der Vergangenheit? Als eine Viruswelle kam, die einen sogenannten Sweep gemacht hat, also einen Kehraus, dass alle anderen Varianten weggefegt werden von der neuen Variante. Und da kann man rückblickend sagen … Das habe ich mal gemacht, weil ich das auch für mich einschätzen musste. Ich bin noch mal in ein paar Studien gegangen, ohne die jetzt alle ... Das sind ganze Listen von Papern, die da publiziert wurden. Ich habe mir das einfach mal ein bisschen auf einem Blatt Papier rausgeschrieben.
Da kann man sagen, diese Studien zeigen eigentlich: Als Alpha kam, dieses Alpha-Virus, da erinnern wir uns, das hatte praktisch keinen Neutralisationstiter-Verlust. Einige Studien haben so bis zum zweifachen Verlust, also Reduktion auf 50 Prozent gesehen. Andere haben gar keinen Verlust gesehen. Bei Alpha wissen wir ja, das hat einfach die Übertragbarkeit über einen anderen Mechanismus gesteigert.
Dann kam Delta und hat Alpha weggefegt. Delta hatte ungefähr einen dreifachen Verlust von Neutralisationstiter. Dann kam die erste Omikron-Welle, Omikron gegen das vorher zirkulierende Delta, also Omikron hat ja wieder Delta vom Tisch gefegt. Auch da war der Neutralisationsverlust so im Bereich von dreifach, vierfach. Also wieder so die gleiche Größenordnung. Und wir sehen in den Studien, das, was ich jetzt gerade genannt habe, im "New England Journal", in der Studie, da ist der Verlust so 3,6-fach ungefähr. Und es gibt noch eine andere Studie aus Hongkong. Das ist eine relativ kleine Studie, aber man sieht dort auch Neutralisationsdaten.
Und da ist der Verlust von BA.5 zur XBB zwischen 3,4- und 4,5-fach, je nachdem, wie man die Zahlen interpretieren will. Das heißt, wir befinden uns hier wieder in der gleichen Größenordnung. Also auch von dieser Warte aus betrachtet, würde ich sagen, dieses Virus hat so viel Immune Escape, dass es wahrscheinlich ist, dass es einen Sweep machen wird. Das wird wahrscheinlich andere Varianten vom Tisch fegen und sich durchsetzen. Und das ist auch dann die Grundvoraussetzung für die Formierung eines neuen Serotypen in der Zukunft, wenn es dann noch weiterevolviert.
Und das ist der Grund, warum ich sage, ich glaube, dass das auch bei uns dominant werden wird. Mehr als glauben kann ich da aber im Moment auch nicht. Wie gesagt, ich kann immer aus meiner Perspektive sagen, wie meine Erwartung ist, warum ich diese Erwartung habe. Und dann muss ich sagen, für eine, sagen wir mal, politisch feierliche Nachbetrachtung, um zu sagen "Pandemie ist vorbei" oder "ein neuer Serotyp ist gekommen", das kann man dann immer erst im Nachhinein sagen.
Wie geht es weiter mit dem Impfen?
Hennig: Das machen wir dann auch im Nachhinein, da fragen wir einfach noch mal nach. Das klingt jetzt aber, wenn ich alles zusammennehme, was wir jetzt zusammengetragen haben, schon danach, dass es eine solide Entwicklung in einem ruhigeren Fahrwasser gibt.
Sie haben die Impfstoffe schon angesprochen. Und das ist die Frage, die wir alle immer stellen, wenn man länger über das Virus spricht: Wie geht das weiter, auch, was das Impfen angeht? Wenn wir uns einen endemischen Zustand mit SARS-2, mit dem Coronavirus, vorstellen und im Vergleich mit anderen Viren skizzieren: Gehen Sie davon aus, die Impfstoffhersteller beobachten da jetzt die Evolution und haben ein bisschen Ruhe, den Impfstoff vielleicht für den Herbst anzupassen, und für den Winter in diesem Jahr. Und dann möglicherweise lassen wir uns tatsächlich einmal im Jahr impfen. Ist das nach wie vor so ein Szenario, das man annehmen kann? Oder kann es sein, dass dieses Virus sich eher so verhält wie die anderen menschlichen Coronaviren, mit denen wir einfach so leben?
Drosten: In der jetzigen Situation, wo wir immer noch die Situation haben, dass solche Escape-Varianten entstehen wie XBB.1.5, die das Virus wohlgemerkt braucht, um Endemizität, also ein Überleben überhaupt zu erreichen in der Bevölkerung, da müssen wir auf die Krankenhausaufnahmen schauen. Da sehen wir schon in den jetzigen nordamerikanischen Daten in diesen Melderegionen, die ich vorhin schon mal genannt hatte: Das sind sehr stark die alten Leute, die da ins Krankenhaus gehen. Das ist ganz stark auf über 70-Jährige betont.
Solange wir das noch haben, werden wir auch auf jeden Fall einen Impfstoff brauchen, weil wir mit dem Impfstoff hier der Immunität der Älteren helfen müssen, damit die nicht bei ihren Grunderkrankungen, die sie in dem Alter eben auch haben, durch eine Virusinfektion noch mal den letzten Rest an Krankheit bekommen, der dann das Leben verkürzt. Das wollen wir ja. Wir wollen ja Leben retten durch eine Impfung. Und ich glaube, die Impfung wird so lange Leben retten, wie wir sehen, dass die Alten betont ins Krankenhaus müssen wegen neuer Virusmutanten.
Ob das jetzt aber noch sehr viele Jahre so weitergeht, das kann man im Moment wirklich nicht voraussagen. Es liegt aber so im Bereich von dem, was ich mir gut vorstellen kann, dass sich hier eigentlich so etwas einstellt wie bei den anderen endemischen Coronaviren auch, dass wir also nach ein paar Jahren eigentlich eine relativ geringe Krankheitslast haben und dass dann vielleicht auch Impfempfehlungen deutlich lockerer formuliert werden.
Allerdings, bei den anderen Coronaviren haben wir auch keine Impfstoffe. Hier haben wir jetzt einen Impfstoff. Und ich würde schon sagen, es ist ja tragisch, wenn eine ältere Person an so einem Virus stirbt, obwohl sie sich durch eine Impfung da komplett hätte raushalten können, aus dieser Gefahr.
Hennig: Das heißt, kurzfristig gedacht ist die Influenza-Analogie vielleicht gar nicht so falsch. Auch da sollten sich ja ältere Menschen einmal jährlich impfen. Und auch wir jüngeren Menschen, inklusive der Kinder können dazu beitragen, viele Kinderärzte impfen ja auch Kinder gegen Influenza, um da einen zusätzlichen Schutz aufzubauen. Wie das dann langfristig ist, muss man also erst mal noch abwarten.
Einen Nachtrag möchte ich aber noch machen bei XBB.1.5. Wenn ich das richtig gesehen habe in den Studien, dann beeinträchtigt diese Variante auch noch mal die monoklonalen Antikörper, die ja als Therapieoption für Menschen zur Verfügung stehen, die keinen eigenen Immunschutz aufbauen können.
Drosten: Ja, das ist richtig. Das ist durchaus so. Nur, die monoklonalen Antikörper, die sind auch bei früheren Virusvarianten schon verloren gegangen. Und das ist einfach eine therapeutische Schiene, die erstens sehr teuer ist und zweitens eben diesen Mangel hat. Es gibt eine Lösung, dass man mehrere monoklonale Antikörper zusammenmischt, dann hat man eine höhere Robustheit. Eine andere Lösung ist, dass man diese monoklonalen Antikörper-Produkte anpasst.
Nur, wir haben ja zum Glück inzwischen immer mehr Erfahrung, auch mit antiviralen Medikamenten, die man zusätzlich geben kann, sodass die relative Bedeutung dieser monoklonalen Antikörper sowieso etwas abnimmt. Das muss man sich da immer klarmachen. Und ganz klar, die Substanzen, die wir jetzt haben, die Tabletten, die man jetzt aus der Apotheke bekommen kann, die wirken ganz genauso gegen das XBB.1.5-Virus. Da gibt es also gar keinen Wirkungsverlust. Und diese Schutzstufe haben wir auch immer noch dabei.
Ich will jetzt durchaus nicht sagen, XBB.1.5 stellt für uns kein Problem dar. Also ich denke, wir werden dieses Virus hierher bekommen und das wird zu einer Erhöhung der Krankheitsfälle führen. Dadurch wird es zwangsläufig auch zu einer Erhöhung der krankenhauspflichtigen Fälle kommen. Wahrscheinlich wird die Rezeptorbindungsfähigkeit auch ein bisschen noch die Krankheit erhöhen, sodass wir Fälle bekommen werden in diesem Winter.
Gegen diese Fälle kann man aber auch was tun. Erstens: jetzt die Kombinationsimpfung nehmen. Gerade, wenn man älter ist, sollte man das tun. Und auch die Jüngeren, die sich ganz klar nicht infiziert haben, die wissen, sie haben noch keine Infektion und die sich vielleicht sagen: "Ich will mich aber nicht infizieren", die sollten durchaus, wenn sie das nicht gemacht haben, jetzt noch mal die Kombinationsimpfung nehmen, dann haben sie auch gegen XBB 1.5. wieder einen verlängerten Schutz. Man sollte das jetzt nicht komplett auf die leichte Schulter nehmen und vergessen, nur: Man sollte auch nicht unbedingt jede Aufregung, die im Moment auf Twitter grassiert, gleich wieder zum Anlass nehmen, um neue Angst vor diesem Virus zu bekommen.
Hennig: Aber präpariert sein - die Tabletten, die Sie eben angesprochen haben, Paxlovid nehme ich an, darauf haben Sie angespielt, sind nach wie vor etwas - das hat auch der Gesundheitsminister sehr propagiert -, wo sich die Hausärzte mit befassen und das zurechtlegen sollten für den Fall des Falles.
Drosten: Ja, absolut. Das wird weiterhin kostenseitig vom Bund übernommen. Und es ist eine relativ einfache Logistikkette. Die Diagnose sollte gesichert sein durch einen Test, dann kann der Hausarzt ein Rezept dafür ausstellen, und die Apotheken können das in der Regel innerhalb von wenigen Stunden über den Bestellweg zur Verfügung stellen. Manche Apotheken haben es auch auf Lager, die großen Apotheken, und diesen Weg sollte man natürlich nutzen. Gerade dann, wenn man ein Patient ist, der schon eine andere Erkrankung hat oder auch einige Kilos zu viel auf die Waage bringt. Das sind ja die Risikofaktoren. Dann sollte man diesen Weg durchaus gehen.
Hennig: Und eine Vielzahl an Jahren auf dem Buckel, möchte ich mal sagen, womit ja viele Vorerkrankungen auch zusammenhängen. Soweit ich es anekdotisch lese und höre, funktioniert das mit Paxlovid aber offenbar noch nicht so gut. Doch das ist kein Thema für Sie hier. Darum wollen wir uns jetzt noch einmal in eine Rückbetrachtung begeben, zum Schluss.
Wie gut ist Deutschland durch die Pandemie gekommen?
Herr Drosten, wenn jetzt alles in etwas ruhigerem Fahrwasser ist, und auch wenn man jetzt sagt: Wir sagen nicht, die Pandemie ist hier zu Ende, aber wir befinden uns auf so einer Zielgeraden in den endemischen Zustand. Dann beginnt ja auch die Zeit der Retrospektive, also sich anzugucken: Wie sind wir durch die Pandemie gekommen? Was können wir daraus lernen für einen möglichen anderen, ähnlichen Zustand mit einem anderen Erreger? Manchmal werden ja mit etwas politischem, ideologischem Wellenschlag Länder verglichen. Das kennen wir von Schweden, immer wieder, ohne sich die Basis so richtig gut anzugucken. Wie nehmen Sie all das rückblickend wahr? Wie gut ist Deutschland durch die Pandemie bekommen? Und waren die Einschränkungen hier eigentlich im internationalen Vergleich besonders erfolgreich?
Drosten: Also ich glaube, wenn man sich die Übersterblichkeit anschaut, ist es relativ klar, dass wir in Deutschland ziemlich gut durch die Pandemie gekommen sind. Wir sind sicherlich auf eine besondere Weise durch die Pandemie gekommen, weil wir in der ersten Welle die erfolgreichsten Maßnahmen hatten. Das lag nicht daran, dass diese Maßnahmen einschneidender als in anderen Ländern waren. Also wir haben, wenn man sich Government Stringency Indizes anschaut, wenn man anschaut, wie lange beispielsweise Schulen geschlossen wurden und so weiter, da lag Deutschland häufig im Mittelfeld oder sogar im weniger strengen Bereich.
Ich weiß nicht, ob man sich erinnert: In der ersten Welle, gerade in Spanien und vielen anderen Ländern in Lateinamerika und so weiter, durfte man gar nicht das Haus verlassen, da patrouillierte die Polizei auf der Straße. So was haben wir nie erlebt. Also wir haben nie wirklich diese krassen Lockdown-Maßnahmen gehabt, sondern wir hatten im Prinzip ein Ausgangsverbot, das immer durchbrochen werden konnte mit gutem Grund. Viele Berufsgruppen konnten weiterhin zur Arbeit gehen, wenn sie notwendig waren. Man konnte einkaufen gehen, selbst in dieser stärksten sogenannten Lockdown-Periode. Man kann fast sagen, in Deutschland gab es gar keine Lockdowns, sondern durchaus differenzierte Übertragungsschutzmaßnahmen.
Und dennoch hatten wir in der ersten Welle die geringste, fast keine Übersterblichkeit, auch gerade, wo man vergleichen kann: Die großen Industrieländer in Europa, die eine ähnliche Bevölkerungsstruktur haben, da war Deutschland einfach der Gewinner. Das lag nicht daran, dass wir besonders rabiat, sondern besonders früh mit diesen Maßnahmen begonnen haben. Und dann gab es ja, wie in vielen anderen Ländern auch - vielleicht in Deutschland besonders stark - diese, ich will jetzt ruhig mal sagen, Fehlinformationen aus einigen Ecken der Wissenschaft.
Wo es dann hieß: "Das muss man jetzt alles anders machen" und "keine Lockdowns mehr", obwohl man eigentlich nie wirklich welche hatte. Und "Gebote statt Verbote". Wir können uns daran erinnern, an diese Slogans, die da benutzt wurden. Das war natürlich verwirrend für die Politik und hat dann leider dazu geführt, dass wir in der Winterwelle, in der ersten großen Winterwelle, praktisch die Übersterblichkeit wieder aufgeholt haben, die wir in der ersten Welle gewonnen hatten. Und von da an war dann aber auch, glaube ich, die gesellschaftliche Gesamterfahrung gemacht, dass man das eben doch ernst nehmen muss und dass man nicht sagen kann: "Machen wir mal Targeted Protection, schützen wir mal nur die Altersheime. Und ansonsten kann jeder leben wie normal." Dass das einfach nicht stimmt.
Und dann war, glaube ich, die relativ stringente Politik in Deutschland dafür verantwortlich, dass wir zusammen mit einer mittelmäßig guten Impfannahme doch gut durch die Pandemie gekommen sind. Und da wäre die Balance möglicherweise besser gewesen, wenn man es geschafft hätte, mehr zu impfen, dann hätte man weniger Maßnahmen gebraucht. Wir hatten ja bis zum Frühjahr 2022 noch Maßnahmen, die andere schon aufgegeben hatten. Und da muss man aber einfach sagen, die konnten andere europäisch vergleichbare Länder deswegen aufgeben, weil sie es geschafft haben, viel besser zu impfen.
Deshalb konnte beispielsweise ein Land wie Dänemark oder auch ein Land wie England sehr weit von den Schutzmaßnahmen in der Omikron-Welle weggehen, weil besser geimpft wurde, weil gerade die Älteren besser geimpft wurden, weil die Booster-Kampagne besser lief. Auch da wurde es zum Teil leider auch mit Beiträgen aus, sagen wir mal, nicht spezialisierten Wissenschaftsdisziplinen zerredet, das Ganze, und da wurden viele Zweifel gestreut. Und da wurde in der politisch-medialen Auseinandersetzung sicherlich einiges an Vertrauen zerstört. Und wenn das besser gewesen wäre, dann hätte man auch früher von den restlichen Maßnahmen absehen können.
Dennoch, in der Gesamtbetrachtung ist Deutschland objektiv mit einer niedrigen Fallsterblichkeit durchgekommen. Wir haben es objektiv geschafft, das Hauptziel der Infektionskontrollmaßnahmen zu erreichen, nämlich zu warten mit den Infektionszahlen, bis die Impfung kommt, damit aus den Infektionen keine Todesfälle werden. Denn Infektion unter Impfschutz führt nicht zum Tod. Infektion ohne Impfstoff führt mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zum Tod. Die tatsächlichen Daten waren die Schätzungen, die waren wahrscheinlich richtig: dass wir mit der Sterblichkeit irgendwo bis an 1,2 oder 1,5 Prozent gelegen hätten in Deutschland, über alle Altersstufen gemittelt, wenn wir keine Schutzmaßnahmen gehabt hätten damals. Und wir sind jetzt inzwischen wahrscheinlich irgendwo bei einer 20-, 30- oder sogar 50-fachen Reduktion der Sterblichkeit.
Hennig: Dazu vielleicht noch eine Zahl für die Jahre 2020 und 2021: Die WHO hat ihre Schätzungen Ende vergangenen Jahres noch mal aktualisiert und kommt auf rund 122.000 Menschen Übersterblichkeit für die ersten beiden Pandemiejahre in Deutschland.
Forschungsergebnisse zum Konzept "Vulnerable gezielt schützen"
Sie haben eben "Targeted Protection" angesprochen, oder "Focused Protection" sagt man auch. Also die Diskussion: Hätte man nicht die Vulnerablen gezielt schützen können und dafür im Rest der Bevölkerung viel mehr laufen lassen? Wenn man das rückwirkend betrachtet, dann gibt es da ja auch ein paar Versuche aus der Wissenschaft, das auszumessen. Wäre das denn tatsächlich möglich gewesen? Die Antwort lautet trotz allem: nein. Oder?
Drosten: Ja, es gibt eine interessante Studie, die ich mir zu dem Anlass jetzt noch mal angeschaut habe, wo eine Gruppe, oder eigentlich im Prinzip zwei Wissenschaftler, aus den Wirtschaftswissenschaften sich das mal genau vorgenommen haben, das Problem in den USA.
Hennig: Aus Washington.
Drosten: Genau. Es ist von der George Mason University, die ist in Washington. Da hat man das Altersheimsystem in den USA analysiert und gefragt: Hätte diese Targeted Protection … Das war einfach die Kernargumentation der Great Barrington Declaration, wo also Wissenschaftler aus Nicht-Infektionsdisziplinen mit diesem sehr starken politischen Vorschlag kamen, dass man doch die Kontrollmaßnahmen weglassen soll und sich stattdessen konzentriert auf die Älteren, denn da ist ja die Krankheitslast.
Und dass man einfach sagt: "Die Älteren sollen gezielt geschützt werden." Und man hat dann sehr stark auf Altersheime hin argumentiert. Wir kennen, glaube ich, alle diese Argumentationen, die damals dann durchaus auch in Deutschland gemacht wurden, im Herbst 2020. Dass man also sagt: "Wenn wir die Alten schützen, dann können die anderen ganz normal weiterleben." Und man hat dann so ja eher simplistische Ideen formuliert in der Öffentlichkeit, die zwar gut klingen, aber eigentlich keinen Inhalt hatten. Also dass man sagt: "Mit Teststrategien und Hygienekonzepten kann man das beherrschen. Wir müssen ein Ampelsystem einführen, dann ist die Informationsvermittlung einfacher."
Nur, was steht dahinter? Das sind ja nur Begriffe, das sind Slogans. Und das hat auch die Great Barrington Declaration so gemacht, dass man das über Slogans vom eigentlichen Problem wegargumentiert hat und fast so ein Wohlgefühl versucht hat, sich hin zu argumentieren. Und einer der Slogans war eben "Targeted Protection", also gezielter Schutz der Älteren.
Und es gibt also in den USA ein Ratingsystem für Altersheime, ein Fünf-Sterne-System. Das wird durch die Centers for Medical Care und Medicaid Services definiert. Das ist das staatliche System für die öffentliche Gesundheitsfürsorge, der nicht privat Versicherten. Das rated also diese Altersheime, und man hat zwischen eins und fünf Sternen. Und die Kriterien sind: Was verdienen eigentlich die Angestellten in diesen Heimen? Wer ist der Träger? Ist das eine kommerzielle Organisation? Wie viele Gesundheitszahlungen bekommen die? Wie ist das Budget dieser Heime? Und so weiter.
Wie sind bestimmte medizinische Prozeduren abgebildet? Also wirklich eine sehr detaillierte Qualitätsklassifikation. Jetzt würde man erwarten, dass ein Heim, das fünf Sterne hat, also das am meisten Personal hat und wo die Prozeduren am genauesten durchgeführt werden und wo zum Beispiel auch der Gesundheitszustand der Klienten eigentlich der Beste ist, dass dort ja eigentlich auch die Abschirmung gegen SARS-2-Infektionen die beste sein müsste. Und das ist sie überhaupt nicht. Also es gibt keinerlei Korrelation mit diesem Qualitätssystem und der Abschirmung.
Es gibt einen Parameter, der bestimmt, wie viele Infektionen in diesen Heimen sind. Und wir sprechen hier von einer Auswertung von über 15.000 Heimen in den USA, mit 1,3 Millionen Klienten insgesamt, die hier wohnen. Es ist also durchaus robust. Es gibt einen Faktor, der bestimmt, wie viele Infektionen da sind, und das ist die Infektionstätigkeit in der Community, wo dieses Heim ist. Also das ist der Parameter. Und das ist genau das, was die Hauptmeinung der Wissenschaft in der gesamten Pandemie gesagt hat: "Man kann das nur unter Kontrolle bringen, indem man die Gesamtinfektionen und Übertragungen in der Gesellschaft unter Kontrolle bringt. Man kann nicht selektiv Altersheime schützen."
Es gibt so ein paar Spezifika, die man noch nennen kann. Beispielsweise: Die Wissenschaftler haben hier eine Gruppe von Elite-kontrollierenden Altersheimen herausgepickt. In der Studie werden die "Islands", also "Inseln der Glückseligkeit" genannt. (Glückseligkeit habe ich jetzt dazugesagt.) Also "Inseln" - das sind die Altersheime, bei denen es in der statistischen Auswertung auffiel, dass die besonders gut einen Abstand geschaffen haben zwischen der Infektionszahl in ihrer Umgebung und der Infektionszahl bei ihren Klienten, also bei denen der Schutz am besten funktioniert hat.
Sterblichkeit in Altersheimen
Und da kann man sagen, diese Heime haben drei gemeinsame Charakteristika. Erstens, sie haben ganz viel Antigentestung gemacht. Das korreliert natürlich damit, dass die viel Budget, viel Geld hatten. Man muss allerdings auch sagen, Antigentestung konnte man ja erst ernsthaft ab der Osterzeit und Sommerzeit 2021 machen, als man dann auch schon impfen konnte. Das heißt, im Herbst 2020, als es noch keine Impfung gab und man hier in Deutschland und auch in der Great Barrington Declaration international für Targeted Protection argumentiert hat, da gab es noch keine Antigenschnelltests auf dem Markt. Das war ja auch so ein bisschen eine Augenwischerei in der Argumentation. Ein anderes Kriterium war, wenn es krankenhausbasierte Heime sind, so was gibt es in USA auch, wie bei uns auch - es gibt Heime, die von Krankenhausträgern betrieben werden. Dann ist die Qualität besser, als wenn es freie Träger sind. Und wenn es nicht-gewinnorientierte Heime sind, keine rein privatwirtschaftlich betriebenen, sondern eher von Versorgungsorganisationen betriebene Einrichtungen, dann ist auch die Qualität besser gewesen.
Da kann man sich vorstellen, dass vielleicht in diesen Heimen weniger Druck auf dem Personalschlüssel liegt. Nur, alle diese Effekte gemeinsam haben auch nur so ungefähr 15 Prozent der Variabilität erklärt. Das heißt, es gibt unbekannte Faktoren, die man nicht herausfinden kann, die in Wirklichkeit erklären, warum diese paar Heime besser kontrolliert haben. Und das kommt dann wahrscheinlich runter auf Betriebsklima und so weiter. Es ist also auch nicht die Antigentestung gewesen, über die manchmal in Deutschland viel argumentiert wurde. "Man muss ja nur überall Schleusentestung machen, dann kriegt man das Problem in den Griff." Das war eindeutig falsch nach dieser Studie.
Hennig: Da gibt es auch, wenn ich das richtig im Kopf habe, so ein paar abschätzende Berechnungen, wenn man die Zahl der Tests erhöht hätte, auch in diesen Inseln, wie viel Effekt hätte das gebracht? Und das Ergebnis ist: Eine riesige Zahl von Tests würde einen verblüffend geringen Effekt bringen, was die Verhinderung von Todesfällen angeht.
Drosten: Genau. Und dann muss man aber eben noch mal wiederholen: Auch das ist eine rein theoretische Überlegung, denn diese Tests gab es nicht in der Zeit, wo es drauf ankam. Was man auch zeigen kann, ist eben: Das, was wirklich geholfen hat, die Sterblichkeit in den Altersheimen runterzubringen - und zeitweise, in den ersten zwei Wellen waren das bis zu 20 Prozent der Gesamttodesfälle in den USA, die in Altersheimen auftraten. Was wirklich diese Situation kuriert hat, war dann die Einführung der Impfung in den Altersheimen. Und die Betrachtung hier bei der ganzen Targeted Protection-Argumentation bezieht sich natürlich auf die Zeit vor der Einführung der Impfung. Und da gab es einfach die Antigentests in dieser Breite noch gar nicht am Markt.
Hennig: Wohl aber der Impfstoff, sagten Sie gerade. Und eine Erkenntnis ist auch: Den Impfstoff noch schneller ausrollen, noch schneller an die Patienten bringen, hätte schon viel gebracht.
Drosten: Richtig. Da gibt es eine Berechnung, dass man, ich glaube, die Zahl, wenn ich es richtig erinnere, war: Man hätte ungefähr 14.000 Tote alleine dadurch gespart, dass man ungefähr fünf Wochen früher mit dem Altersheim-spezifischen Impfprogramm in den USA dran gewesen wäre. Und so werden die Dinge auch in Deutschland ungefähr gelegen haben. Da gab es natürlich schon auch Länderunterschiede. England beispielsweise hat tatsächlich etwas früher zugelassen und früher angefangen.
Offene Corona-Forschungsfragen
Hennig: Was sind denn für Sie die wichtigsten Fragen, die jetzt noch offen sind? Weil - auch, wenn wir in einem endemischen Zustand sind, wir haben es vorhin schon angedeutet, heißt das ja nicht: Alles ist ungefährlich. Malaria zum Beispiel ist in bestimmten Ländern auch endemisch und immer noch sehr tödlich für viele Menschen. Auch immer noch, weil es da jetzt zwar den Ansatz einer Impfung gibt, aber mit noch nicht so einer großen Effektivität. Was sind also die wichtigsten offenen Fragen, die die Forschung jetzt noch bearbeiten muss? Long Covid ist das eine? Die akute Infektion, aus immunologischer Sicht ist da auch noch vieles mit Fragezeichen versehen, was das mit dem Organismus macht?
Drosten: Ja, natürlich. Diese Fragen wird es weiter geben. Die Fälle, die betroffen sind, die werden natürlich zum Glück abnehmen. Was noch ein bisschen unklar ist, wie Sie sagen: die langfristigen Schäden am Immunsystem. Wir hatten schon, ich glaube, es ist ein Jahr oder anderthalb Jahre her, als wir mal besprochen haben, dass es diese Immunsystem-Alterung gibt nach einer akuten Infektion mit SARS-2. Wir wissen im Moment gar nicht so genau, wie SARS-2-spezifisch das ist, oder ob das andere akute Infektionserkrankungen in dieser Form auch machen. Das wird eine wichtige Forschungsfrage sei. Das sind ja jetzt eher immunologische Fragen …
In der Virologie haben wir natürlich immer noch große Fragezeichen. In der Virologie muss man schon zugeben: Diejenigen, die hier in der Einschätzung der Situation und in der Information der Entscheider wirklich den Ton angegeben haben, waren die Populationswissenschaftler, also diejenigen, die als Datenwissenschaftler in Ländern, wo diese Daten auch verfügbar waren, die Auswertungen gemacht haben und dann die Modellierungen gerechnet haben, also die Epidemiologen, die theoretischen Epidemiologen. Die haben sehr große Beiträge geleistet.
Die Virologen haben Daten generiert zu verschiedenen Teilaspekten, Rezeptoraffinität, Immunflucht gegen Neutralisation und so weiter. Nur sind wir eigentlich immer der Situation nachgelaufen. Wir haben als Fachdisziplin, glaube ich, hier nicht geschafft, einzulösen, was der große Anspruch eigentlich ist, dass man durch die Untersuchung des Virus einschätzen kann, wie sich so ein Virus entwickelt, wie man das bewerten muss. Da gibt es in meinem Fach jetzt einen extremen Arbeitsbedarf, das nachzuarbeiten, daraus zu lernen und jetzt dann die Systeme so zu verbessern, dass das bei der nächsten Pandemie gelingen wird. Dass wir also sagen: Jetzt wissen wir, welches Modellsystem wir nehmen müssen.
Also nur mal ein Beispiel. Vieles in der Virologie basiert auf Versuchen im Hamster, in der Maus und zeitweise auch im Frettchen. Wir wissen inzwischen, dass alle diese Modelle eigentlich nicht das wirklich abbilden, was im Menschen passiert. Und wir müssen uns schon fragen, ob wir nicht in bestimmten Aspekten viel stärker auf Organmodelle aus dem menschlichen Hintergrund setzen müssen. Und wir haben jetzt die Zeit der Organoid-Modelle. Da werden wir sehr stark darauf zurückgreifen müssen und diese Methoden weiterentwickeln müssen. Also Modellsysteme im Labor für Organabschnitte des Respirationstraktes beim Menschen: Lunge, Bronchus, oberer Respirationstrakt, Schleimhaut.
Statt zu sagen: "Wir haben Mäuse infiziert." Trotzdem brauchen wir auch Tiermodelle als Verifikation. Das wird über lange Zeit die Referenz bleiben. Man kann auch nicht einfach sagen, wir schaffen jetzt mir nichts, dir nichts Tierversuche ab. Niemand macht zwar gern Tierversuche. Natürlich ist es ethisch auch immer zu betrachten, das Ganze, aber dennoch: Man kann das nicht von heute auf morgen alles umschmeißen. Auch wenn wir anerkennen müssen, dass das, was diese Modelle bis jetzt geliefert haben, nicht immer die ganze Wahrheit war.
Rückübertragung des Virus aus dem Tierreich
Wir haben andere Fragen, in der grundlegenden virologischen Epidemiologie. Eine ganz große Frage, die wir jetzt heute gar nicht angesprochen haben, hier in dem Interview, ist: Was passiert, wenn das Virus aus dem Tierreich wiederkommt? Also wir wissen, SARS-2 ist zum Beispiel in Nordamerika in Huftiere gegangen, auf der ganzen Welt in Karnivoren, auch in Zuchtkarnivoren.
Hennig: Fleischfresser. An die Nerze erinnern wir uns. Und Hirsche waren es in den USA, glaube ich.
Drosten: Genau. Und die Frage ist natürlich: Kann der Mensch sich daran wieder zurückinfizieren, und kriegt das Virus von da wieder einen anderen Startpunkt der Evolution? Kommt von da ein anderer Serotyp, der uns irgendwann vielleicht eine Überraschung beschert? Also vielleicht irgendwann, wenn wir schon gar nicht mehr im Impfstoff das Ursprungsvirus drin haben, dann kommt es aus irgendeinem Tierreservoir zurück, und wir sind dagegen nicht mehr geschützt. All solche Dinge, die muss man auch beforschen, denke ich. Da muss man so ein bisschen Zukunftsforschung machen. Also die Frage: Wie kann das zurückkommen? Wie ist der Mechanismus? Kann das noch menschliches Gewebe befallen, nachdem es ein paar Jahre beispielsweise in Ungulaten (Huftieren) gewesen ist?
Solche Fragen sind auch sehr relevant. Dann natürlich die grundlegenden Abwehrschranken aus der Forschung heraus, also: Wann kriegen wir endlich einen Wirkstoff, ein Medikament, das breitbändig gegen Viren schützt? Wie können wir die jetzigen Vakzinen, die jetzt einen echten Test überstanden haben, für andere Erreger nutzbar machen? Wie können wir was gegen andere Erkältungs- und Atemwegsviren machen? Ist es ein denkbares Konzept, die normalen Erkältungskrankheiten wegzuimpfen oder zumindest deren Gefahr für die ältere Bevölkerung zu reduzieren?
Hennig: Das sind schöne Szenarien zum Ausstieg. Das Szenario, dass das Virus vom Tier wieder zurück auf den Menschen springt, da hoffen wir natürlich, dass es kein Anlass für uns sein wird, Sie noch mal anzurufen, Herr Drosten. Ich sage bis hierhin mal wieder vielen Dank, dass Sie sich jetzt die Zeit genommen haben! Wir sprechen uns sicher irgendwann noch mal, aber im Moment ist es glücklicherweise offenbar ja ruhigeres Fahrwasser. Deswegen bleibt mir nur, Ihnen alles Gute für Ihre Arbeit zu wünschen und weiterhin einen guten Start in dieses Jahr!
Drosten: Das wünsche ich Ihnen auch.