(101) Coronavirus-Update: Same procedure as last year
In der neuen Folge des NDR Info Podcasts Coronavirus-Update spricht die Virologin Sandra Ciesek über wieder steil ansteigende Infektionszahlen und Hospitalisierungsraten und warum das im Herbst ein Problem werden könnte.
Wer die Kurve für das Infektionsgeschehen im Herbst 2020 mit der aktuellen vergleicht, könnte meinen, dass er sich im Jahr verirrt hat. Die Wahrnehmung der Pandemie scheint dem aber diametral entgegenzustehen. Im Gespräch mit Wissenschaftsredakteurin Korinna Hennig erklärt die Leiterin der Medizinischen Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt, dass in der Wahrnehmung der Coronavirus-Pandemie ein Gewohnheitseffekt eingetreten sei. Außerdem geht es in Folge 101 unter anderem um die wieder steigende Bedeutung von Tests und Post-Covid bei Kindern.
Die zentralen Themen der Folge im Überblick - per Klick direkt zur Textstelle springen
Das aktuelle Infektionsgeschehen: Inzidenzwerte und Hospitalisierungen
Wie steht Deutschland bei der Pandemie-Bekämpfung im internationalen Vergleich da?
Warum nehmen Durchbruchsinfektionen zu?
Sollten Booster-Impfungen für alle empfohlen werden?
Welches Risiko bergen Veranstaltungen mit 2G- oder 3G-Regel?
Sollten auch Geimpfte wieder getestet werden?
Was könnte eine direkte Ansprache von zögernden Menschen für die Impfkampagne bringen?
Welche Hinweise gibt eine neue Studie zu Post-Covid-Symptomen bei Kindern und Erwachsenen?
Wie steht es um die mögliche Zulassung des Totimpfstoffs von Valneva?
Ist die neue Subvariante AY4.2 des Coronavirus eine Gefahr?
Das aktuelle Infektionsgeschehen
Korinna Hennig: Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt jetzt bundesweit wieder deutlich über 100 pro 100.000 Einwohner. Je höher man in den Altersgruppen geht, umso größer ist die Zunahme. Jetzt weiß man, die bloße Inzidenz könnte irreführend sein, weil sie über die Krankheitslast nicht unmittelbar etwas aussagt. Wenn man jetzt die anderen Werte hinzuzieht, mit denen man die Lage erfassen kann, würden Sie dann auch sagen, unsere aktuelle Situation ist tatsächlich schon vergleichbar mit dem vergangenen Jahr?
Sandra Ciesek: Also nicht eins zu eins. Erst mal muss man sagen, ich hatte vor ein paar Wochen noch gehofft, dass wir einfach länger auf einem Plateau bei den Neuinfektionen bleiben. Und jetzt sieht man, wie Sie schon angedeutet haben, einen deutlichen Anstieg eigentlich aller Parameter. Also nicht nur die Infektionen, sondern auch der Patienten auf Intensivstationen. Auch die Hospitalisierung steigt an. Mir macht im Moment Sorge, dass der Anstieg der Neuinfektionen zusammenfällt mit einer schon sehr hohen Belegung auf Intensivstationen von derzeit ungefähr 1.600 Patienten, die dort zum großen Teil schon länger liegen. Das führt dazu, dass wir eigentlich im Vergleich zum letzten Jahr, wenn man sich die Intensivpatientenbelegung anguckt, sogar schlechter dastehen.
Personalmangel in der Pflege
Gleichzeitig haben wir einen Pflegepersonalmangel, der nicht besser wird, sondern sich eher noch verschärft. Es werden deswegen vermehrt Betten gesperrt. Und die Last liegt hier einfach auf den großen Maximalversorgern, den Universitätskliniken. Sorge macht mir auch, das wurde schon erwähnt, dass gerade die Wachstumsrate bei den Älteren, bei denen plus 80 zum Beispiel eine 40-Prozent-Zunahme haben. Bei den über 60-Jährigen ebenfalls. Und das sind natürlich die Patienten, die oft Krankenhausbehandlungen benötigen. Und wir sehen dazu noch vermehrt, und das macht mir auch große Sorge, Ausbrüche in medizinischen Einrichtungen, aber auch in Alten- und Pflegeheimen. Trotzdem, wenn man es mit 2020 vergleicht, haben wir jetzt schon mehr Neuinfektionen, also wenn man mal einen Tag vergleicht 20 und 21. Wir haben aufgrund der Wellen, die davor waren, mehr Intensivpatienten und auch mehr Tote. Und ich habe das Gefühl, dass es trotzdem im Moment nicht wirklich jemanden interessiert, weil so ein Gewohnheitseffekt eingetreten ist. Man gewöhnt sich einfach an diese Zahlen. Der Grund dafür ist vor allen Dingen das Delta-Virus, also die "Variant of Concern" Delta, die die Situation natürlich mit der erhöhten Übertragbarkeit noch mal deutlich verändert hat in Deutschland. Trotzdem haben wir Impfungen. Man sieht, dass im Vergleich zu vor einem Jahr deutlich weniger Patienten an der Infektion sterben, wenn sie geimpft sind.
Hennig: Das immerhin ist eine gute Nachricht. Aber ganz kurz noch mal zur Krankenhaussituation. Wenn die Entwicklung so weitergeht, kann man dann davon ausgehen, oder muss man davon ausgehen, dass die Pandemie auch wieder zu einer allgemeinen Bedrohung wird, also für andere schwere Erkrankungen oder Unfälle und nötige Operationen, die dann verschoben werden müssen?
Ciesek: Das glaube ich schon, dass das lokal so sein wird. Zentriert auf die Universitätskliniken, auf diese Maximalversorger, glaube ich schon, dass es zu Engpässen kommen wird. Und das ist auch davon abhängig, wie gut wir das jetzt in den Griff bekommen. Gerade diese Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen und in Krankenhäusern. Ob man die jetzt einfach ignoriert oder nichts ändert oder ob man dort doch versucht, dagegen vorzugehen. Man darf nicht vergessen, dass wir natürlich mittlerweile wissen, dass die Impfung keinen unbegrenzten Schutz vor einer Infektion bietet. Gerade, wenn die Impfung schon eine Weile her ist, dann besteht die Möglichkeit, dass man sich doch infiziert. Und dass man es gar nicht doll merkt, dass man infiziert ist und sich dann auch nicht testen lässt und das Virus dann natürlich weitergeben kann.
Die Pandemie-Lage im internationalen Vergleich
Hennig: Auf diese Unwägbarkeiten bei den Impfungen wollen wir gleich noch mal gucken. Und auch darauf, was man denn jetzt tatsächlich in den Einrichtungen tun kann, wo es Ausbrüche gibt. Noch einmal bei der Gesamtlage geblieben: Wir haben ja immer wieder zum Beispiel nach England geguckt, wo die Zahlen nach Aufhebung der Maßnahmen rapide angestiegen sind, obwohl es dort schon sehr viel mehr Genesene gibt - soweit man das zumindest weiß - als in Deutschland. Wo stehen wir jetzt im internationalen Vergleich? Wie schätzen Sie das ein?
Ciesek: Ich glaube, es gibt Länder, in denen es deutlich schlechter als in Deutschland ist. Wenn ich als Beispiel mal Rumänien nehmen kann. Das geht gerade mit wahnsinnig hohen Inzidenzen durch die Presse, in Bukarest über 1.000. Und dort sterben an einigen Tagen 450 bis 500 Menschen bei 18 Millionen Einwohnern. Das entspräche in Deutschland 2.000 Toten pro Tag. Und die haben nur eine Impfquote von ungefähr 35 Prozent und dazu ein marodes Gesundheitssystem. Das muss man leider auch sagen. Da wird sehr wenig in das Gesundheitswesen investiert. Und was besonders tragisch ist, dass die eigentlich genug Impfstoffe eingekauft hatten und dann aber weitergegeben haben, weil das Interesse an der Impfung in Rumänien so gering war. Rumänien ist natürlich nicht mit Deutschland vergleichbar, mit unserem System und unserer Impfquote.
Es zeigt aber, dass selbst in Europa so etwas möglich ist. Und auch in Europa die Pandemie nicht vorbei ist. Es ist einfach sehr traurig, das anzusehen. Wenn man jetzt mal andere Nachbarländer, die näher an uns dran liegen, anschaut: Die Niederlande hat zum Beispiel eine Inzidenz von knapp 190, Belgien eine von 280, obwohl die eine Impfquote von 74,8 Prozent haben, und die Inzidenzen weiter ansteigen. Das Gute ist, dass, wenn man zum Beispiel noch mal nach Belgien guckt, die Todesfälle bisher trotzdem niedrig sind. Auch in den Niederlanden und in Großbritannien sterben weniger Menschen pro Tag, wenn man das mit Januar 2021 vergleicht, wo noch kaum jemand geimpft war. Wenn man dann mal in die südlichen Länder guckt - zum Beispiel Spanien oder Italien - die haben im Vergleich eine niedrigere Inzidenz von ungefähr 30 bis 40. Aber die haben auch bessere Impfraten.
In Spanien sind 81 Prozent geimpft, in Italien 76 oder 77 Prozent und in Portugal zum Beispiel 88 Prozent. Da hilft natürlich die hohe Impfquote. Ich vermute aber auch, dass die Inzidenz da noch stabil ist, weil die natürlich andere Wetterverhältnisse haben. Dort ist einfach noch Sommer und es ist viel wärmer als jetzt hier. Ich weiß es nicht, ich fürchte, dass es da natürlich auch zu Anstiegen kommen kann, wenn es dort deutlich kälter wird. Das muss man weiter beobachten.
Warum nehmen Impfdurchbrüche zu?
Hennig: Gerade was die Impfquote angeht, Sie haben zum Beispiel Spanien und Portugal erwähnt, das sind Länder, die vor allem auch eine sehr hohe Impfquote in den hohen Altersgruppen haben, ähnlich wie in Dänemark. Da sind die über 80-Jährigen quasi zu 100 Prozent durchgeimpft. Das kann ja auch eine Erklärung dafür sein, dass es sich mit den Krankenhauseinweisungen da im Moment noch ein bisschen entspannter verhält. Aber wenn wir jetzt auf diese Erkenntnis gucken, die wir schon oft hatten, dass die Immunität einfach nachlässt, dann sind wir auch direkt beim Thema Impfdurchbrüche. Wenn man in den letzten Wochenbericht des Robert Koch-Instituts guckt, dann sieht man, die Zahl der Impfdurchbrüche steigt, obwohl man weiß, dass die Impfungen gut wirken. Besonders in der Altersgruppe der über 60-Jährigen, da liegt der Anteil der Geimpften im Krankenhaus bei über 40 Prozent. Muss uns das für den jetzigen Zeitpunkt beunruhigen, was die Wirksamkeit des Impfstoffs angeht, weil bei so vielen jetzt einfach eine dritte Impfung schnell nötig wäre?
Ciesek: Ich glaube, man darf es nicht ignorieren. Zum einen gibt das RKI in seinem Wochenbericht immer noch einen hohen Schutz vor Hospitalisierung, vor Behandlung auf einer Intensivstation und vor Tod an, auch bei den über 60-Jährigen. Das liegt zwischen 86 und 92 Prozent. Trotzdem sehen wir immer mehr, dass natürlich die über 60-Jährigen nach der Priorisierung früher geimpft wurden als die anderen Patienten. Und dass das bei den meisten schon eine Weile her ist. Wir sehen schon, dass die Durchbruchinfektionen bei den Patienten zunehmen. Schwierig wird es dann, wenn noch eine andere Grunderkrankung dazukommt, die eh schon mit einem schwereren Verlauf bei der Erkrankung assoziiert ist, aber vielleicht auch mit einem schlechteren Ansprechen auf den Impfstoff. Ich denke schon, dass das zeigt, dass diese Älteren, was ja auch die Stiko empfiehlt, von einer Booster-Impfung auf jeden Fall profitieren würden, indem sie sich vor einer Infektion schützen. Und noch mal die Wirksamkeit vor einem schweren Verlauf auch ansteigt. Was vielleicht noch wichtig ist, es gab ein Interview aus Darmstadt, von einem Kollegen, Cihan Celik. Der hat noch mal betont, dass die Durchbruchinfektionen bei ihnen zu 50 Prozent Patienten sind, die Johnson und Johnson bekommen hatten. Im Verhältnis: Es sind nur fünf Prozent in Hessen mit Johnson und Johnson geimpft worden. Deshalb: Es muss auf jeden Fall eine hohe Priorisierung haben, die sind ja nur einmal geimpft, dass man dort auf jeden Fall eine zweite Impfung mit einem anderen Impfstoff noch nachholen sollte.
Hennig: Zur Erklärung für die, die ihn nicht kennen, Cihan Celik ist einer der prominentesten Ärzte, die dort in Darmstadt auf der Intensivstation Covid-Patienten behandeln.
Ciesek: Genau. Er gibt regelmäßig Interviews. Ich glaube, für die FAZ. Die sind immer sehr sachlich, sehr lesenswert und immer sehr nah am Geschehen im Krankenhaus. Kann man sehr gut lesen, diese Interviews.
Der Fall Colin Powell
Hennig: Dringende Leseempfehlung. Wir haben ein prominentes Beispiel für eine Impfung, die nicht gewirkt hat, nicht ausreichend gewirkt hat. Obwohl, nochmal, es eigentlich einen hohen Schutz gibt. Können wir das vielleicht einmal kurz aufgreifen? Der frühere US-Außenminister Colin Powell ist verstorben, obwohl er doppelt geimpft war. Aber erstens, er hatte seinen Booster noch nicht, der für Menschen in seinem Alter vorgesehen ist. Er war über 80. Und er hatte eine gravierende Grunderkrankung.
Ciesek: Genau. Diese gravierende Grunderkrankung ist eine Form von Krebs, die zu einer Immunsuppression führt. Ich denke, das ist auch der große Unterschied. Es gibt einfach Erkrankungen, die dazu führen, dass der Patient, die Patientin keine ausreichenden Antikörper nach einer Impfung bildet. Das kennen wir eigentlich von fast allen Impfstoffen und auch von anderen Infektionen. Das sind auch Patienten, die oft schwere Verläufe haben, weil das Immunsystem geschwächt ist und nicht so funktioniert wie bei jemandem ohne diese Erkrankung. Trotzdem ist es bei diesen Patienten natürlich sinnvoll, dass die geimpft werden, weil man sich erhofft, dass die, auch wenn die Immunantwort nicht optimal ist, Verläufe schwächer sind. Es ist ja auch nicht so, dass es dann bei keinem wirkt, sondern man weiß es einfach vorher nicht. Und ich finde das Argument, nur weil ich nicht 100 Prozent Sicherheit oder Schutz bekomme, mache ich es gar nicht, ein ziemlich schlechtes Argument, weil man fast nie 100 Prozent in der Medizin erreicht. Das Risiko für sich selbst so weit wie möglich zu senken, ist ja das eigentliche Ziel.
Sollten Booster-Impfungen für alle empfohlen werden?
Hennig: Wenn jetzt aber die Immunantwort auch bei uns Mittelalten immer mehr nachlässt - wer zum Beispiel im Frühsommer geimpft wurde, das ist bei mir der Fall, der hat jetzt vielleicht schon einen deutlich niedrigeren Antikörper-Titer - dann können die Impfungen ja auch immer weniger auf die Pandemie-Dynamik einwirken. Also umso weniger kann ich durch meine Impfung Vulnerable mitschützen. Heißt das, man müsste theoretisch auch mal darüber nachdenken, ob dann doch mittelfristig eine Booster-Impfung nicht nur für Ältere sinnvoll ist? Also ein Drei-Dosis-Impfschema tatsächlich für alle, auch wenn das ethisch mit Blick auf Länder des globalen Südens eine schwierige Frage ist.
Ciesek: Wenn ich es noch mal zusammenfassen darf, damit es einfach keine Missverständnisse gibt: Impfen reduziert das individuelle Risiko, schwer zu erkranken, für jeden, wobei das individuelle Risiko unterschiedlich ist. Wie lange das so ist, das wissen wir noch nicht. Ob das Jahre sind, ob das viele Monate sind. Die Impfung führt aber nur kurz zu einer sterilen Immunität. Das heißt, man kann sich wahrscheinlich nach drei Monaten ungefähr wieder anstecken, gerade mit Delta. Das liegt vor allen Dingen auch an der Delta-Variante, dass es da vermehrte Infektionen gibt. Und natürlich sind Booster-Impfungen, wie von der Stiko empfohlen, vor allen Dingen für Ältere sinnvoll, wo wir wissen, dass das Immunsystem nicht ganz vergleichbar ist zu jungen Menschen. Bei Menschen mit einer Immunsuppression, das steht, glaube ich gar nicht infrage, dass wahrscheinlich diese zwei Dosen nicht ausreichen um ausreichend Impfschutz zu entwickeln. Sondern die meisten oder alle von drei Dosen profitieren. Das ist sozusagen für sie selber wichtig. Bei Jüngeren, nehmen wir mal eine 30-jährige Frau, die hat durch die zweifache Impfung ihr Risiko reduziert. Es ist richtig, sie kann sich wieder infizieren. Trotzdem ist es so, dass auch nach den vielen Monaten noch ein hoher Schutz besteht, aber mit der dritten Impfung, mit einer Booster-Impfung könnte man zum Beispiel verhindern, dass sie sich die nächsten Wochen infiziert und zu einem Überträger des Virus wird. Deswegen wird auch empfohlen, dass das Krankenhauspersonal und die Pflegekräfte in den Alten- und Pflegeheimen sich boostern lassen.
Das hat nicht nur primär den Grund des Eigenschutzes, das auch ein wenig, aber sozusagen als Gemeinschaftsschutz. Um die Zirkulation der Viren, wenn man mit Risikogruppen Kontakt hat, zu minimieren. Und das ist so ein bisschen, was man auseinanderhalten muss. Man hat es an Israel gesehen, die haben eigentlich ihre vierte Welle durch eine erneute Impfung gebrochen, durch eine Booster-Impfung der Gesamtbevölkerung. Das ist möglich, wäre auch hier möglich. Es muss nur klar kommuniziert werden, dass der Eigennutzen für junge Leute mit einer dritten Impfung nicht so hoch ist wie bei der initialen Impfung, sondern dass es vor allen Dingen auch um ein gemeinschaftliches Blocken der Infektionsketten gehen würde.
Welches Risiko bergen Veranstaltungen mit 2G- oder 3G-Regel?
Hennig: Also zum Eigenschutz vielleicht gar nicht unbedingt nötig, auch für Menschen wie Sie und mich zum Beispiel. Aber wenn man jetzt umgekehrt denkt, wer jetzt ungeimpft in eine 3G-Veranstaltung geht, der geht dann aber doch mittlerweile ein hohes Risiko ein, weil sich bei den Zahlen, die wir jetzt haben und dem Zeitverlauf seit Impfung immer ein infizierter Geimpfter darunter befinden kann.
Ciesek: Ja. Das ist auch, was mir im Moment am meisten Bauchschmerzen macht. Neben den anderen Sachen ist es diese 2G/3G-Regelung, die glaube ich vielen eine falsche Sicherheit vorgibt. Also gucken wir uns mal den 3G-Fall an. Eine Großveranstaltung, dann, genau wie Sie sagen, ist der Nicht-Geimpfte getestet und die anderen sind nicht getestet, die Geimpften. Und es ist mit steigender Inzidenz und mit zunehmendem Abstand der Impfungen nicht unwahrscheinlich, dass dann bei Großveranstaltungen auch Geimpfte dabei sind, die das Virus übertragen können, wenn dann auch nicht mehr Abstandsregeln oder irgendwelche Hygieneregeln eingehalten werden, besteht für den Ungeimpften dann, der nur mit seinem negativen Test kommt, natürlich eine große Gefahr, sich zu infizieren und aufgrund dieses Ereignisses zu erkranken. Das würde ich natürlich zum Beispiel Risikogruppen nicht empfehlen. Aber es geht ja noch weiter. Wenn das zum Beispiel ein junger Mensch ist, der dann eine Woche später seine schwangere Freundin oder die Oma besucht, dann kann das natürlich zu sehr unschönen Verläufen führen und zu einer Übertragung auf diese Risikopatienten.
2G-Veranstaltungen
Hennig: Das gilt dann eben auch für 2G-Veranstaltungen. Also wenn ich als zweifach Geimpfte auf eine 2G-Veranstaltung gehe und das Gefühl habe, wir untereinander sind da eigentlich relativ sicher, und gehe danach raus und treffe jemanden, der verwundbar ist, wo der Impfschutz möglicherweise nicht ausreichend ist oder der gar nicht geimpft ist, dann nützt 2G auch nichts.
Ciesek: Genau. Es ist so, dass die Daten, die veröffentlicht sind, zeigen, dass Geimpfte zwar weniger infektiös sind, ein wenig, und auch kürzer infektiös sind. Trotzdem ist das natürlich auch keine 100 Prozent. Es ist möglich, dass das passiert. Je länger die Impfung her ist, wird das Risiko größer, sage ich mal. Deshalb finde ich das ganz wichtig, dass den Leuten das bewusst ist: Wenn sie jetzt Kontakt haben, sage ich mal, relativ normal im Alltag leben, Konzerte besuchen – oder die Universitäten haben ja gestern das Semester gestartet, da sitzt man dann zum Teil mit 300, 400 Leuten im Hörsaal – also wenn man das macht, was man natürlich machen kann, dann sollte man aber extrem vorsichtig sein, wenn man dann am Wochenende die Großmutter im Altenheim besucht. Hier würde ich mir einfach wünschen, dass die Extrakäsescheibe an Sicherheiten, nämlich Testungen, dazukommen und man einfach versucht, da doch ein bisschen das Risiko abzumildern. Es ist möglich, leider. Ich fürchte, wir werden das bei steigenden Inzidenzen die nächsten Wochen und Monate häufiger sehen, dass es solche Fälle gibt.
Hennig: Das wäre auch meine nächste Frage gewesen, weil Sie das gerade schon angedeutet haben. Macht es dann tatsächlich nicht Sinn, auch doppelt Geimpfte, zumindest in bestimmten Situationen, wieder standardmäßig zu testen? Es gibt ja die Debatte um Tests in Schulen, aber es geht natürlich auch um Altersheime und Krankenhäuser. Da hat das RKI zuletzt fast 300 Ausbrüche innerhalb einer Woche allein in medizinischen Einrichtungen gemeldet - mehr als doppelt so viel in Einrichtungen für alte Menschen.
Ciesek: Ja, auf jeden Fall. Wir hatten am Anfang gesagt, wir wollen auch darüber sprechen, was ist jetzt zu tun? Ich denke, ganz wichtig ist bei diesem starken Anstieg der Inzidenzen, wir müssen einfach schnell jetzt etwas tun, um zu vermeiden, dass wir in Situationen kommen wie letztes Jahr. Bei dem neuen Wissen, dem Wissen, dass die Impfung nicht unbedingt vor einer Infektion schützt, und beim nachlassenden Impfschutz gerade bei den Älteren.
Booster-Impfung für Ältere
Das eine ist die Booster-Impfung für Ältere. Da habe ich ehrlich gesagt keinen guten Überblick oder Zahlen gefunden, wie weit fortgeschritten das eigentlich in Deutschland ist. Also wie weit fortgeschritten in Pflege- und Altenheimen zum Beispiel die Booster-Impfungen sind. Aber das ist wirklich ganz essenziell, wenn es zu Ausbrüchen in diesen Einrichtungen kommt, oder wenn man ältere Menschen über 70 hat, die oft noch andere Erkrankungen haben und der Patient meldet sich beim Hausarzt, dass man wirklich bei jedem Fall prüft, kann man dem Patienten monoklonale Antikörper geben? Wir haben die in Deutschland verfügbar. Es wäre einfach schade, wenn man die jetzt nicht nutzt, um schwere Verläufe zu verhindern.
Weiterhin Hygienemaßnahmen in Krankenhäusern
Was man sagen muss, dass in Krankenhäusern und in Altenpflegeeinrichtungen die Hygienemaßnahmen ganz streng weiter durchgeführt werden müssen. Das sehe ich langfristig so, dass sich das nicht ändern wird. Also Maske tragen, verschärfte Hygiene, Abstand halten. Dann müssen wir sicherlich auch überlegen, ob man nicht doch vor einem Besuch in Altenheimen Tests anbietet. Also das ist nicht gut, dass das Geld kostet, sondern es sollten eigentlich in den Pflegeheimen Tests für jeden liegen, der reinkommt. Man sollte einen Test machen, weil niemand möchte, dass er seine Verwandten dort ansteckt oder gefährdet. Ich glaube einfach, dass das da im Moment noch zu wenig getan wird, um Ausbrüche zu verhindern. Wir wissen alle, wir haben oft darüber gesprochen, dass die Antigentests nicht ideal sind und ihre Schwächen haben, aber sie jetzt gar nicht mehr zu nutzen und sie schlecht zu reden, ist nicht sinnvoll.
Sollten auch Geimpfte wieder getestet werden?
Ich würde mir einfach wünschen, dass man da ganz unterschwellig auch Geimpfte testet, weil die oft gar nicht merken, dass sie infiziert sind, weil sie so leichte Symptome haben. Und ich höre es auch an Ihrer Stimme, im Moment sind, glaube ich, alle erkältet. Ich habe das Gefühl, man weiß gar nicht mehr, was es ist. Gerade, wenn man Kinder hat, die in die Schule oder den Kindergarten gehen.
Hennig: Zumal man auch sagen muss, es gibt natürlich immer noch die kostenpflichtigen Schnelltests auch für Geimpfte. Man kann die in Anspruch nehmen. Es gibt aber auch nach wie vor noch Selbsttests. Also weil Sie jetzt mich als Beispiel genommen haben. Ich nutze das eigentlich ganz gern, weil ich habe Kinder. Ich habe deswegen wahrscheinlich eine Erkältungssaison vor mir. Ich habe heute Morgen zum Beispiel auch einen Schnelltest gemacht, der natürlich nicht 100 Prozent aussagt, aber ein bisschen was wenigstens.
Ciesek: Ich muss sagen, meine Erfahrungen bei den Antigentests ist, dass das sehr auf die Qualität des Antigentests ankommt. Man hat als Laie nicht den Überblick, was man da so im Supermarkt kauft. Es gibt eine Liste online, soweit ich weiß, bei der BfArM. Und es gibt auch leider viel Schrott auf dem Markt. Trotzdem, klar, das ist ja das Gute, dass es möglich ist, die kosten auch nicht die Welt. Ich weiß, das Versprechen der Politik war, dass die Geimpften das nicht mehr machen müssen. Es geht ja aber auch gar nicht nur um Versprechen, sondern um Vernunft. Ich glaube, viele Menschen wären so vernünftig und würden so wie Sie einfach einen Test machen, bevor sie zum Beispiel die Eltern besuchen oder die schwangere Freundin. Ich glaube, das ist in den Köpfen der meisten noch nicht so richtig angekommen.
Hennig: An der Stelle noch mal der Hinweis, wir verlinken die BfArM-Liste auch hier nochmal. Man kann sich da gut orientieren. Da stehen die Herstellerangaben zumindest drin zu Empfindlichkeit und Genauigkeit der Tests, also Spezifitäts- und Sensitivitätsangaben.
Ciesek: Das wäre gut, weil natürlich das Ergebnis auch neben der Präanalytik, also wie ist der Abstrich, von dem eigentlichen Test abhängt.
Hennig: Wir sehen im Übrigen auch einen Anstieg der Test-Positiven-Quote. Das bezieht sich dann natürlich auf bestätigte PCR-Tests, obwohl es allgemein in absoluten Zahlen einen Rückgang der Zahl der Tests gibt, das ist schon auch ein Signal, würde ich denken.
Ciesek: Ja, ich muss sagen, wir kriegen jeden Tag im Labor so viele Anrufe, wo Menschen gar nicht mehr wissen, wo sie sich testen lassen können. Da muss es vielleicht auch noch mal klarere Strukturen geben. Die Testzentren nehmen nur Leute ohne Symptome. Wenn einer Symptome hat, ist der Arzt voll oder nimmt keinen Abstrich. Manchmal irren Leute wirklich hin und her.
Kommunikation: Wo können Abstriche genommen werden?
Ich glaube, das wäre auch noch mal wichtig zu kommunizieren, wo welcher Abstrich gemacht wird. Und dass man, nur weil jemand geimpft ist, nicht auf einen Abstrich verzichten sollte, wenn er entsprechende Symptome hat, so wie Schnupfen oder Unwohlsein. Einen Punkt würde ich gern noch ansprechen, was man noch tun sollte, weil wir darüber gerade gesprochen haben. Das ist, dass man wahrscheinlich nochmal die Menschen, die über 60 oder wahrscheinlich sogar über 50 sind und die nicht geimpft sind, dass man die einfach doch nochmal versucht, direkt anzusprechen. Die Kommunikation zum Impfen habe ich oft als sehr anonym und sehr indirekt oder auch zum Teil als hierarchisch empfunden. Ich glaube, man sollte nochmal versuchen, wenn man überhaupt weiß, das weiß ich nicht, wer von den älteren Personen nicht geimpft ist, doch noch mal in persönlichen Ansprachen und Gesprächen einfach mit denen über die Impfung zu diskutieren.
Was könnte eine direkte Ansprache für die Impfkampagne bringen?
Hennig: Es gibt auch Menschen, die sagen, vielleicht muss man es noch nicht mal genau wissen, sondern könnte auch das Geld in die Hand nehmen, zum Beispiel mit der Gießkanne Briefe auszusenden. Wenn man dann schon Geimpfte erwischt, wäre es auch nicht so ein großes Problem. Es gibt Erkenntnisse aus der Motivationspsychologie, dass eine direkte Ansprache auch anonym hilft. Da habe ich zum Beispiel von einem Feldversuch gelesen, den Forscher aus Mannheim, Friedrichshafen und Washington gemeinsam gemacht haben. Da hat man Bürgerbriefe verschickt, in denen für die Impfung geworben wurde, und zwar an gut 27.000 Menschen. Die Hälfte bekam einen Standardbrief vom Bürgermeister, in der anderen Hälfte hieß es "Ihre Impfung wartet", also eine direkte Ansprache. Man hat in dieser Gruppe fast 40 Prozent mehr Impfungen erreicht als in der Vergleichsgruppe. Haben Sie schon noch die Hoffnung, dass sich mit kreativeren Maßnahmen der Ansprache die Quote der neu zu Impfenden noch mal steigern lässt?
Ciesek: Ja, der Feldversuch klingt so banal. Aber ich glaube einfach, dass das dringend nötig ist. Meine Erfahrung als praktizierende Ärztin, was ich auch immer meinen Studenten im Untersuchungskurs gesagt habe, die Menschen wollen Ehrlichkeit und eine Offenheit, aber auch auf Augenhöhe mit dem Arzt sprechen. Die möchten auch die Grenzen kennen. Also ich habe zum Beispiel sehr viele Anfragen von Leuten bekommen, die ganz komplexe neurologische Erkrankungen haben, die ich auch nicht kannte und erst mal googeln musste. Oder seit 40, 50 Jahren einen Brief von ihrem Arzt hatten, dass sie keine Impfung machen dürfen. Dass diese Leute sich nicht einfach impfen lassen, ohne sich genau zu informieren, ist doch nur verständlich. Also da muss man auch vorsichtig sein, jeden, der nicht geimpft ist, direkt als Leugner oder als Impfgegner abzustempeln. Das sind viele aus meiner Erfahrung gar nicht.
Persönliche Gespräche suchen
Sondern die sind zutiefst verunsichert und brauchen einfach ein persönliches Gespräch, was irgendwie anscheinend nicht immer so leicht verfügbar ist. Es gibt wirklich komplexe Fälle, wo man sich das genau angucken muss und wo man auch als Arzt sagen muss: "Bei so einer seltenen Erkrankten ist es möglich, dass es zu einer Veränderung kommt, aber trotzdem, aus den und den Gründen, empfehle ich Ihnen die Impfung, weil Sie von einer natürlichen Infektion viel stärker betroffen wären."
Welche Hinweise gibt eine neue Studie zu Post-Covid-Symptomen bei Kindern und Erwachsenen?
Hennig: Jetzt sind wir schon bei der Risiko-Nutzen-Abwägung. Das ist auch eine Frage, die sich viele Eltern stellen, wenn es um die Impfung von Jugendlichen ab zwölf Jahren geht. Wir haben schon oft darüber gesprochen, wie schwer es ist, das Phänomen Long Covid nach Infektion von Kindern und Jugendlichen wissenschaftlich zu erfassen. Mittlerweile gibt es mehr Erkenntnis.
Eine Studie, unter anderem von der Technischen Universität Dresden auf der Grundlage von Krankenkassendaten: Über die Hälfte aller Versicherten in Deutschland waren da drin zu Post Covid-Symptomen, und zwar auch in den jüngeren Altersgruppen. Jetzt muss ich ein bisschen ausholen, damit Sie uns das gleich einordnen können. Man hat Daten über einen sehr langen Zeitraum ausgewertet, und zwar mit einer großen Kontrollgruppe. Infizierte und nicht Infizierte im Vergleich, sodass man bei psychischen Folgen und Erschöpfungserscheinungen besser beurteilen kann als in bisherigen Studien, sind das Auswirkungen der Maßnahmen gegen das Virus oder Folgen der Infektion selbst? Da geht es um die erste Welle der Pandemie und es wurden fast 12.000 Minderjährige eingeschlossen. Man hat sich also Symptome und Symptomkomplexe angeguckt, die nach einer Corona-Infektion auftreten und verglichen, inwiefern solche Symptome auch in der Kontrollgruppe, also unabhängig von einer Infektion aufgefallen sind. Auswirkungen auf die Lunge, das Herz, die Psyche, neurologische Erscheinungen, Ausdauer, Schmerzen und so weiter. Das ist ein Preprint. Vielleicht können Sie uns ein bisschen Lesehilfe geben, wie viel mehr Erkenntnis uns diese Studie gibt, was Post Covid-Symptome angeht, also länger anhaltende Symptome einer Infektion.
Ciesek: Das ist eine sehr schöne Studie, muss man sagen, weil es sehr viele Daten sind, die da eingeflossen sind: Von 38 Millionen Menschen und auch mit genauen Kriterien. Man hat zum Beispiel nur Patienten, Infizierte eingeschlossen, die einen Nachweis der Infektion hatten. Man hat, das ist auch ein großer Unterschied zu den anderen Studien, eine gematchte Kohorte, eine Kontrollkohorte. Das heißt, die Lockdown-Maßnahmen an sich, die ja bisher immer nicht gut beurteilt werden konnten, die konnten jetzt verglichen werden, also dass man sozusagen eine Vergleichskohorte hat, die auch nur den Lockdown erlebt hat ohne Infektion. Das ist schon sehr gut. Diese Patienten wurden insgesamt drei Monate nachverfolgt, was relativ kurz ist. Sie haben recht, es war nur in der ersten Welle, es war ohne Alpha und Delta, deshalb sind die absoluten Zahlen schwierig zu beurteilen. Und dann haben die bestimmte Symptomkomplexe zusammengefasst und verglichen mit der Kontrollkohorte, die nicht infiziert war versus die Infizierten. Und dann Erwachsene versus Kinder und Jugendliche verglichen. Dabei sieht man ganz schön, dass es bei Covid-19-Patienten signifikant häufigere Raten gibt von diesen Symptomkomplexen. Das war sowohl bei den Erwachsenen so als auch bei den Kindern und Jugendlichen.
Unterschiede Kinder und Erwachsene
Es waren unterschiedliche Symptomkomplexe bei Erwachsenen und Kindern und Jugendlichen. Insgesamt schreiben die Autoren, dass die Rate der Symptome bei Kindern und Jugendlichen insgesamt niedriger sei als bei Erwachsenen. Wobei, das finde ich schwierig, jetzt genau daraus festzuleiten, x Prozent bekommt die Symptome, x Prozent die, weil da das Paper einfach natürlicherweise ein paar Schwächen hat. Wie Sie schon angedeutet haben, gerade in der ersten Welle wurden Kinder sehr wenig getestet. Das heißt, dass sie eher schwerere Fälle diagnostiziert haben. Ich kann mich noch an die erste Welle erinnern, da haben wir jeden Patienten genau nachverfolgt und sozusagen überbesorgt angeschaut. Also das kann natürlich auch zu einer Verzerrung führen. Das, was mir besonders gut an dem Paper gefällt, wer das lesen möchte, ist die Diskussion der Autoren, die ihre Limitationen der Studie selber sehr gut beschreiben. Also die das wirklich ausführlich genau einordnen, was dieses Paper eben nicht sagen kann. Und wichtig ist die Studie auf jeden Fall, die Ergebnisse sind sehr gut nachvollziehbar.
Keine Aussage zur Symptomdauer
Aber, das ist die Einschränkung, es sind keine Aussagen zur Dauer der Symptome drin, weil das Krankenkassendaten sind, wann eine Diagnose erfasst wurde. Es könnte sein, dass die Dauer der Symptome nur kurzfristig da ist. Es ist naturgemäß keine Aussage zur Kausalität zu treffen, weil es keine prospektive Studie ist. Trotzdem sind natürlich gerade die Ergebnisse bei den Kindern und Jugendlichen ganz bedeutend und auch wichtig für die Entscheidung dann der Stiko, ob man Kindern und Jugendlichen ebenfalls eine Impfung empfehlen wird, also den Kindern unter zwölf. Was natürlich schön gewesen wäre, ist, wenn man diese Daten jetzt noch mal unter Delta erheben könnte. Das machen die Autoren hoffentlich, wird natürlich dauern. Und wenn man das mal vergleichen würde mit einer anderen Infektion wie Influenza, also ist das mehr, ist das weniger? Das kann man mit der Studie so nicht sagen. Und die Konfidenzintervalle sind zum Teil sehr groß.
Hennig: Der Streubereich der Genauigkeiten sozusagen.
Ciesek: Genau. Es ist ein schönes Paper, um zu zeigen, dass es mehr als die Kontrollgruppe an Symptomen gibt. Aber wie häufig die sind, da würde ich aufgrund der Studie sehr vorsichtig sein, daraus zu sagen, das ist x-fach häufiger als bei der Kontrollgruppe. Das ist durch die Schwächen des Studiendesigns nicht wirklich ganz sicher zu sagen.
Hennig: Was man aber ein bisschen sagen kann, ist, was die Art der Symptome angeht, zumindest eine Richtung, dass langfristige Folgen an der Lunge eher bei Älteren, also bei Erwachsenen auftauchen und bei Kindern ein bisschen weniger. Und dass es mehr um das geht, was man im Englischen "Mental Health" nennt.
Ciesek: Genau. Zum Beispiel waren Geschmacksstörungen bei Erwachsenen der Spitzenreiter und bei Kindern und Jugendlichen nicht. Bei Kindern und Jugendlichen war es Husten, Müdigkeit und Erschöpfung oder Unwohlsein und bei den Erwachsenen Geschmacksstörungen, Fieber und Atembeschwerden. Aber wie gesagt, die Studie sagt nichts aus über die Dauer der Beschwerden. Und es liegt auch zum Teil daran, wenn Sie ein kleines Kind fragen: "Hast du Geschmacksstörungen?", der weiß gar nichts damit anzufangen. Da fällt dann eher auf, dass das Kind zum Beispiel weniger isst, also weniger Appetit hat. Das ist schwierig, aber es ist auf jeden Fall interessant zu beobachten. Und was auch aufgefallen ist und auch eigentlich logisch ist, dass die stärksten Auswirkungen Patienten hatten, die auf einer Intensivstation lagen.
Hennig: Das heißt aber für die Frage der Impfentscheidung von Eltern, kann man festhalten, wie oft solche lang andauernden Folgen einer Covid-Infektion bei Heranwachsenden vorkommen, ist nach wie vor total schwierig zu sagen. Aber dass es ein Risiko für Long Covid oder zumindest Post Covid, also länger andauernde Symptome, auch bei Jüngeren gibt, das kann man schon festhalten?
Ciesek: Ja, das denke ich. Das zeigt diese Studie schon. Ich denke, dass, wenn man das jetzt wieder unter Delta einholen würde und mit den Einschränkungen, die wir im sozialen Leben jetzt seit fast zwei Jahren oder anderthalb Jahren haben, dass die Zahlen dann noch mal ganz anders ausfallen würden.
Wie steht es um die mögliche Zulassung des Totimpfstoffs von Valneva?
Hennig: Viele, die zögerlich bei der Impfung sind, auch bei der Impfung von Kindern, aber auch bei Erwachsenen, die setzen ja auf Totimpfstoffe, weil das so ein sehr, sehr lang praktiziertes Impfprinzip ist. Nun hat der französisch-österreichische Hersteller Valneva angekündigt, seinen Impfstoff bald zur Zulassung vorzulegen, weil die Daten gut aussehen, heißt es in der Pressemitteilung. Man muss dazusagen, aufbereitet als Studie haben wir das noch nicht. Aber es heißt, rund 4.000 Menschen haben in der letzten Studienphase teilgenommen. Und zumindest ist der Impfstoff, grob verallgemeinert gesagt, laut Hersteller, dem von AstraZeneca überlegen. Haben Sie Hoffnung, dass damit die Impfbereitschaft steigen könnte, wenn ein Totimpfstoff tatsächlich kommt?
Ciesek: Man hört das von einzelnen Personen, dass die auf diesen Impfstoff warten. Es kann sein, dass sich dann einige damit impfen lassen, wenn sie nicht bis dahin schon infiziert sind. Das muss man leider auch sagen, weil das Risiko für Ungeimpfte, sich diesen Herbst, Winter zu infizieren, einfach sehr hoch ist. Das kann ich nicht abschätzen, wie die absolute Zahl ist. Bei Valneva ist es so, dass die Studien in Großbritannien gelaufen sind. Da gibt es nur Pressemitteilungen drüber, dass die gebildeten Antikörper höher sind als bei AstraZeneca.
Was ich fraglich fand, was ich gelesen habe, ist, dass Großbritannien im Februar 2021 einen Vertrag abgeschlossen hat mit Valneva über den Kauf von 100 Millionen Dosen des Impfstoffs. Und dieser Vertrag wurde aber von der britischen Regierung gekündigt. Ich glaube, im September dieses Jahres. Es ist mir nicht ganz klar, warum. Die Firma möchte trotzdem die Zulassung im Vereinigten Königreich einreichen. Die Studien sind auch in Großbritannien gelaufen. Und sie schreiben selber in der Pressemitteilung, dass eine abschließende Assay-Validierung zur Überprüfung der Integrität der Daten noch ausstehen würde, was das auch immer heißen mag. Ich glaube, es kann einfach sein, dass der Impfstoff noch dauert, bis der zugelassen wird, weil die Daten für die Zulassungsbehörden nicht ausreichend sind. So klingt das für mich ein wenig. Deswegen, wenn man darauf wartet, muss einem bewusst sein, dass die Gefahr, dass man sich jetzt im Herbst, Winter infiziert, groß ist. Und dass dieser Impfstoff vielleicht erst im Frühjahr kommt beziehungsweise man kann das im Moment ganz schlecht abschätzen.
Ist die neue Subvariante AY4.2 des Coronavirus eine Gefahr?
Hennig: Ich würde gerne nochmal einen letzten kleinen Blick auf die Evolution des Virus werfen, weil auch da neue Fragen aufgetaucht sind. Es gibt eine neue Variante, eine Unterform der Delta-Variante, die vielleicht ein bisschen ansteckender sein könnte. Die wurde zuletzt noch im einstelligen Prozentbereich in England registriert, aber mit steigender Tendenz. Und wird dort in England jetzt auch "Variant under investigation", also Stufe zwei von drei Aufmerksamkeitsstufen. Die Variante heißt AY4.2. Die kommt auch in Deutschland schon vor, zumindest in kleinen Anteilen. Ist das ein Grund, genauer hinzugucken?
Ciesek: Ja, das ist es ja immer. Erst mal muss man sagen, dass diese Variante aufgefallen ist, weil einfach die Häufigkeit, wie oft die in Großbritannien entdeckt wurde, angestiegen ist auf, ich glaube zuletzt neun Prozent. Und die Variante ist jetzt gar nicht so auffällig aufgrund ihrer Mutationen. Die hat im Spike bestimmte Mutationen, die eine davon findet man auch in Delta-Subtypen und die andere findet man zum Beispiel in Alpha, also in der ehemaligen britischen Variante. Das sind jetzt keine neuen Mutationen, sondern in anderen Kontexten schon bekannt. Und was man wohl gesehen hat, ist, dass die Übertragbarkeit leicht erhöht ist. Von ungefähr 10, 15 Prozent geht man aus. Das ist natürlich eine ganz andere Hausnummer, als das bei Delta im Vergleich zu Alpha war. Die Mutationen sind jetzt nicht an der Rezeptorbindedomäne, trotzdem gibt es noch keine Daten für die Impfstoffwirksamkeit. Aber wahrscheinlich muss man schauen, wie die aussehen. Bisher sagen die Engländer auch, es gibt aufgrund der kurzen Dauer, die man hat, die natürlich eingeschränkt ist, aber es gibt keine Hinweise, dass die irgendeinen anderen klinischen Verlauf nehmen. Und natürlich muss man das weiter beobachten. Es kann immer noch sein, dass sich das vermehrt hat durch verschiedene Superspreader-Events. Ich denke, das Wichtige ist einfach, dass das sicherlich die Lage in Großbritannien nicht alleine erklärt. Und dass, wenn diese Untervariante AY4.2 sich auch mal gegen Delta durchsetzen wird, wird es deutlich länger dauern als Delta versus Alpha, weil die Transmission, wie gesagt, nur gering höher ist.
Hennig: Zum Vergleich noch mal, von Alpha zu Delta waren es ungefähr 50 Prozent mehr Übertragbarkeit. Und in Großbritannien, auch noch mal zur Erinnerung, haben wir gar keine Maßnahmen mehr. Das ist noch eine ganz andere Situation als hier. Eine kurze Nachfrage noch: Sie haben einen ganz guten Blick aus Frankfurter Perspektive auf die Varianten. In Deutschland kommt die Ihnen noch nicht so häufig unter?
Ciesek: Wir gucken schon auch nach diesen Untergruppen, Subtypen und finden AY4, AY5.1, alle möglichen Buchstabenkombinationen, aber jetzt nicht gehäuft. Ich glaube, wir haben die einmal oder so bisher gehabt.
Hinweis: Die nächste reguläre Folge läuft am 9. November 2021.