Amoktat in Hamburg am 9. März bei den Zeugen Jehovas: Was bisher bekannt ist
Im März 2023 tötet ein Mann sieben Mitglieder einer Gemeinde der Zeugen Jehovas in Hamburg-Alsterdorf und sich selbst. Es ist eine Tat, die Hamburg erschüttert und eine Diskussion über das Waffenrecht ausgelöst hat. Was ist bekannt? Fragen und Antworten auf Grundlage von Äußerungen der ermittelnden Behörden.
Was wirft die Staatsanwaltschaft dem Mitarbeiter der Waffenbehörde vor?
Er soll Informationen über den Amoktäter Philipp F., die er über einen Mitarbeiter des Hanseatic Gun Clubs aus dem familiären Umfeld des Täters erhalten hatte, weder dokumentiert noch ordnungsgemäß innerhalb der Waffenbehörde weitergeleitet haben, teilte die Staatsanwaltschaft mit. So soll er nicht darauf hingewiesen haben, dass er selbst vorgeschlagen hatte, ein am 24. Januar bei der Waffenbehörde eingegangenes Schreiben als "anonyme" Anzeige zu schicken, obwohl er mögliche Urheber sowie weitere Hintergründe kannte. Es sei sozusagen eine bestellte anonyme Anzeige gewesen, hieß es aus Ermittlerkreisen. Daraufhin ordnete der zuständige Sachgebietsleiter der Waffenbehörde nach Angaben der Staatsanwaltschaft nur eine unangekündigte Aufbewahrungskontrolle für die im Besitz von Philipp F. befindliche Schusswaffe an, anstatt sich gezielt weitere Informationen zu verschaffen und die Waffe nebst Munition umgehend sicherzustellen.
Was wurde den Mitarbeitern des Hanseatic Gun Clubs vorgeworfen?
Gegen drei Mitglieder einer Prüfungskommission, die im Hanseatic Gun Club Sachkundeprüfungen abnimmt, war wegen des Anfangsverdachts der Falschbeurkundung im Amt ermittelt worden. Den Mitarbeitern war vorgeworfen worden, dem späteren Attentäter ein Blanko-Zeugnis über eine bestandene Sachkundeprüfung ausgestellt zu haben - ohne, dass er die Prüfung bestanden hatte. Diese Sachkundeprüfung ist zwingend für die Erteilung einer Waffenbesitzkarte notwendig. Im Zuge der Ermittlungen zeigte sich: Das Zeugnis war bereits vor den Prüfungsterminen unterschrieben worden. Philipp F. hatte die theoretische Prüfung dann bestanden, die praktische nicht. Er holte sie aber nach und bestand sie. Das bereits im Vorfeld von den Prüfern unterschriebene Sachkundezeugnis wurde ihm erst danach gegeben. Somit durfte er die Tatwaffe, eine Neun-Milimeter-Pistole, laut Staatsanwaltschaft besitzen. Gegen die Beschuldigten wird nun nicht mehr ermittelt.
Wer informierte wen über die potenzielle Gefährlichkeit des Täters Philipp F.?
Der Bruder des Täters hatte Anfang Januar offenbar den Sportschützen-Club Hanseatic Gun Club darüber informiert, dass der 35-Jährige psychisch krank gewesen sei und immer aggressiver wurde. In dem Club hatte Philipp F. seine Sportschützenprüfung abgelegt und auch die Tatwaffe bestellt. Der Club will die Warnung sofort an die Waffenbehörde weitergeleitet haben. Die Polizei ermittelte bereits seit Anfang April gegen einen ihrer Beamten, weil er im Verdacht steht, den Hinweis auf die Gefährlichkeit des Amokschützen fahrlässig oder bewusst nicht dokumentiert und verfolgt zu haben. Zudem soll der Beamte enge Verbindungen zu dem Sportschützen-Club gehabt haben, in dem auch Philipp F. aktiv gewesen war. Am 11. April wurde gegen den betreffenden Polizisten ein Disziplinarverfahren eröffnet.
Was stand in der "anonymen" Warnung an die Waffenbehörde?
Am 24. Januar 2023 gab es eine anonyme Warnung direkt bei der Waffenbehörde, in der explizit von Schizophrenie die Rede war. Diese Warnung wurde offenbar nicht mit einer vorangegangenen Meldung des Gun Club in Zusammenhang gebracht. Laut Polizeipräsident Meyer teilte darin der Verfasser mit, Beamte sollten Waffenbesitzer Philipp F. kontrollieren, weil dieser unter einer psychischen Störung leide. Die unbekannte Person habe ferner geschrieben, dass die psychische Erkrankung von F. möglicherweise ärztlich nicht diagnostiziert sei, da sich F. nicht in ärztliche Behandlung begebe. F. habe laut dem Schreiben eine besondere Wut auf religiöse Anhänger gehegt, besonders auf die Zeugen Jehovas und seinen ehemaligen Arbeitgeber. Tatsächlich fand daraufhin am 7. Februar eine unangekündigte Waffenaufbewahrungskontrolle bei F. statt. Dabei seien "keinerlei relevante Beanstandungen" festgestellt worden, so Meyer. Für eine Sicherstellung der Waffe oder ein fachpsychologisches Zeugnis habe keine Rechtsgrundlage bestanden.
Wer wurde außer der Polizei über Philipp F. informiert?
Bereits im Jahr 2021 soll der Vater von Philipp F. den sozialpsychiatrischen Dienst informiert haben, weil sein Sohn "Stimmen" gehört habe. Es folgte lediglich ein Gespräch mit F., weitere Maßnahmen wurden nicht eingeleitet.
Welche Kritik gibt es in Bezug auf die Ermittlungsarbeit der Polizei?
In den Tagen nach der Tat wurde bekannt, dass F. auf seiner Internetseite auf ein von ihm geschriebenes Buch verweist, in dem er wirre religiöse Thesen unter anderem zum Judenmord durch die Nationalsozialisten vertritt. Einen Hinweis auf das Buch habe es auch in dem anonymen Schreiben an die Polizei Ende Januar gegeben, bestätigten die Ermittler. Bei Online-Recherchen seien die Beamten in der Waffenbehörde jedoch nicht auf das Buch oder weitere Informationen dazu gestoßen, sagte Meyer zunächst in der Pressekonferenz am 14. März. Etwa eine Woche später hieß es vonseiten der Polizei, man habe doch Kenntnis von dem Buch gehabt. Es sei aber weder bestellt noch heruntergeladen worden. F. wurde bei der Kontrolle am 7. Februar 2023 laut Polizei auch nicht auf das Buch angesprochen.
Hätte die Polizei aufgrund des Buches weitere Schritte einleiten sollen?
Öffentlich wird nun die Frage diskutiert, ob die Tat - etwa durch den Entzug der Waffe - möglicherweise hätte verhindert werden können, wenn die Beamten mit Kenntnis des Buchinhaltes weitere Schritte eingeleitet hätten. Polizeipräsident Meyer sagte in der Pressekonferenz am 14. März, auf Grundlage solcher Erkenntnisse wären weitere Maßnahmen nach dem Waffengesetz aus seiner Sicht durchaus möglich gewesen. Verfehlungen der Beamten in der Waffenbehörde im Vorfeld der Tat sehen er und Innensenator Grote aber nicht. Die Überprüfung des Sportschützen habe dem Standard entsprochen.
Wer ist der mutmaßliche Täter?
Philipp F., 35 Jahre alt, war deutscher Staatsbürger, seine Wohnadresse war in Hamburg-Altona. Er stammte aus Memmingen und wuchs in Kempten im Allgäu auf. Studiert habe er in München, sagte der Leiter des Staatsschutzes der Polizei, Thomas Radszuweit. Auf seiner Webseite wies sich F. als Unternehmensberater aus und gab an, in einem streng evangelischen Haushalt aufgewachsen zu sein. Seit 2015 war er Radszuweit zufolge in Hamburg gemeldet. Er war ein ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas. Ob er von der Gemeinde ausgeschlossen wurde oder ob er freiwillig ausgetreten ist, darüber gebe es noch unterschiedliche Informationen, so die Ermittler. Der Sprecher der Gemeinde betonte, dass sich F. selbst zurückgezogen habe. Laut Behörden war F. strafrechtlich zuvor in keiner Weise in Erscheinung getreten, es habe bundesweit keine Einträge in entsprechenden Akten gegeben, teilte der leitende Oberstaatsanwalt Arnold Keller mit. Es habe auch keine Hinweise auf Planungen für diese Tat gegeben. Die Polizei geht davon aus, dass F. allein gehandelt hat und er keinem Netzwerk angehörte.
Was ist am Abend des 9. März passiert?
Laut dem Rechercheformat STRG_F kam der Täter gegen 19 Uhr zu dem Gebäude der Zeugen Jehovas im Stadtteil Alsterdorf mit dem Taxi. Um 20.15 Uhr googelte er, ob eine Neun-Milimeter-Patrone Sicherheitsglas durchbricht. Um 20.45 Uhr endete die Versammlung der Zeugen Jehovas. Als eine Frau um 21.01 Uhr aus dem Gebäude kam und auf dem Parkplatz rangierte, schoss Philipp F. zehn Mal auf ihr Auto. Sie entkam leicht verletzt. Philipp F. feuerte durch das Fenster in den Saal, kletterte herein, feuerte auf die Menschen. Die ersten Notrufe gingen ein. Um 21.09 Uhr waren Spezialkräfte vor Ort, drangen in das Gebäude ein. Philipp F. floh ins Obergeschoss und erschoss sich. Insgesamt feuerte er 135 Schüsse ab, tötete sieben Menschen und sich selbst. Neun Menschen wurden schwer verletzt, weitere 20 überlebten unverletzt.
Wie wurde die Bevölkerung gewarnt?
Bei Polizei und Rettungskräften in Hamburg wurde nach der Alarmierung eine Großlage ausgelöst, laut Innenbehörde waren auch Spezialkräfte im Einsatz. Anwohnende wurden gegen 22.30 Uhr per Smartphone vor einer "lebensbedrohlichen Lage" gewarnt, Straßen in der Nähe des Tatorts abgesperrt. Um kurz nach 3 Uhr wurde über die Warn-Apps NINA und Katwarn schließlich Entwarnung gegeben. Insgesamt waren laut Polizei mehr als 1.000 Beamtinnen und Beamte im Einsatz. 52 davon seien Bundespolizisten oder Spezialeinsatzkräfte aus Schleswig-Holstein gewesen. Die Straßen rund um den Tatort blieben bis zum frühen Freitagmorgen gesperrt. Auch die Spurensicherung vor Ort dauerte bis zum Morgen an.
Was ist das Motiv für die Tat?
Die Hintergründe der Bluttat sind noch nicht klar, sie sind nach Aussagen von Polizei und Staatsanwaltschaft derzeit weiter Gegenstand der laufenden Ermittlungen. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass F. aus Hass gegen die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas gehandelt habe, sagte Oberstaatsanwalt Keller. Deshalb ermittele die Generalstaatsanwaltschaft. Nach bisherigen Erkenntnissen liege bei F. keine rechtsradikale Gesinnung vor, es werde nicht wegen Rechtsextremismus ermittelt, sagte Uwe Stockmann, stellvertretender Leiter des Hamburger Staatsschutzes. Das differenzierte Bild von F. weise aber psychische Auffälligkeiten auf. Der Extremismusforscher Peter Neumann kommt in einem Gutachten über das Buch von Philipp F., das die Hamburger Polizei in Auftrag gegeben hat, zu dem Schluss, er könne Philipp F. nicht als Extremisten einstufen. Es finde sich in dem Buch kein Aufruf zur Gewalt. "Ich kann (...) sagen, dies ist kein terroristisches Manifest."
Wie kam der Täter an Waffe und Munition?
Bei der Tatwaffe handelt es sich um eine halbautomatische Pistole der Marke Heckler und Koch. Die P30 ist nach Herstellerangaben eine speziell für die Polizei konzipierte Selbstladepistole. Sie ist eine reguläre Dienstwaffe. Sie kann aber auch zivil genutzt werden, etwa für die Jagd oder zum Sport. Philipp F. war Sportschütze und legal im Besitz der Waffe. Der Mann habe seit Dezember 2022 eine Waffenbesitzkarte gehabt, sagte Polizeipräsident Ralf Martin Meyer. "Seit dem 12. Dezember befand er sich somit im legalen Besitz einer halbautomatischen Pistole." Diese Information findet sich auch in den Datenbanken. Nach Angaben von Uwe Stockmann vom Landeskriminalamt seien nach der Tat insgesamt 60 Magazine für die Waffe am Tatort beziehungsweise in der Wohnung des Täters gefunden worden. Gekauft hatte er die Munition nach Angaben der Ermittler teilweise über unterschiedliche Online-Händler.
Welche Konsequenzen zieht die Polizei aus der Amoktat?
Die Polizei Hamburg hat als Reaktion auf die Amoktat von Alsterdorf angekündigt, Waffenbesitzer in Zukunft besser zu überprüfen. Dazu sei ein Fünf-Punkte-Plan erarbeitet worden, mit dem man das Risiko für solche Taten minimieren wolle. So sollen etwa die Abläufe in der Waffenbehörde professionalisiert und standardisiert werden. Wenn ein anonymer Hinweis auf einen möglicherweise psychisch kranken Waffenbesitzer eingeht, solle jeder Mitarbeitende genau wissen, was zu tun ist. Auch die Zusammenarbeit mit dem Landeskriminalamt soll verbessert werden. Die Ermittlerinnen und Ermittler sollen beispielsweise bei der Recherche nach Hinweisen helfen.
Wie läuft die Debatte um eine Verschärfung der Waffengesetze?
Schon am Tag nach der Amoktat von Hamburg begann eine erneute Debatte über eine mögliche Verschärfung der geplanten Reform des Waffengesetzes in Deutschland. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) kündigte an, den Änderungsentwurf noch einmal zu prüfen. Auch Hamburgs Innensenator Grote und Polizeipräsident Meyer machen sich für eine Verschärfung des Waffenrechts stark. In dem im Januar von Faeser vorgelegten ersten Reform-Vorschlag werden halbautomatische Langwaffen für Privatleute verboten - der Täter in Hamburg hatte eine halbautomatische Pistole verwendet. Diese Waffe würde nicht unter das bisher vorgesehene Verbot fallen. Außerdem geht es in der Debatte um die Frage, ob künftig alle Anwärter auf eine Waffenbesitzkarte ihre psychische Eignung dafür nachweisen müssen. Grote und Meyer haben sich bereits dafür ausgesprochen. Bisher müssen nur Menschen bis 25 Jahre ein solches Zeugnis für die Erteilung einer Waffenerlaubnis vorlegen. Auch eine bessere Vernetzung der Behörden wird laut Faeser bei der Waffengesetz-Reform angestrebt.
Wer sind die Zeugen Jehovas?
Die Zeugen Jehovas sind eine christliche Gemeinschaft mit eigener Bibel-Auslegung, die sich strengen Vorschriften unterwerfen soll. Die Anhänger glauben an Jehova als "allmächtigen Gott und Schöpfer". Sie sind davon überzeugt, dass eine apokalyptische Katastrophe bevorstehe und danach für gläubige Menschen auf der Erde paradiesische Zustände herrschen werden. Weltweit haben die Zeugen Jehovas etwa acht Millionen Mitglieder. Die "Weltzentrale" ist in New York. Die deutsche Gemeinschaft mit rund 170.000 Mitgliedern gehört zu den größten in Europa.