Abdo: Sohn Alan geht zur Schule
Mit ihren vier Kindern im Alter von 4 bis 13 Jahren sind Abdo und seine Frau Ilham (Nachname zum Schutz nicht veröffentlicht) aus dem syrischen Afrin-Tal bei Aleppo nach Niedersachsen geflüchtet. Nach einer zwei Jahre dauernden Flucht hoffen sie, hier zur Ruhe zu kommen. In diesem Blog können Sie nachlesen, wie es ihnen in Göttingen ergeht.
Einschulung: Alan ist ABC-Schütze
Der sechsjährige Alan ist jetzt Erstklässler. Insgesamt sind 50 Kinder in der Wilhelm-Busch-Schule in Göttingen eingeschult worden. Alan kommt in die "Bärenklasse" und ist sehr stolz darauf, nun endlich ein Schulkind zu sein. "Der Bär ist unser Maskottchen", sagt Alan selbstbewusst. Natürlich auf Deutsch. Im Kindergarten hat er in den letzten Monaten fleißig die neue Sprache gelernt. In der Schule wird der Junge aus Aleppo bis zu drei Stunden täglich mit drei weiteren Flüchtlingskindern in einer Sprachlernklasse weiter Deutsch lernen. Die übrigen Stunden des Schultages verbringt er im regulären Unterricht in der Bärenklasse. Je besser Alan die deutsche Sprache beherrscht, desto früher kann er ganz in seiner Klasse bleiben. Und darauf freut sich Alan besonders. Seine Eltern freuen sich auch über seine große Schwester Amira (14), denn die ist mittlerweile von der Hauptschule auf ein Gymnasium gewechselt.
Krankengymnastik für Rashid
Zweimal pro Woche bekommt Abdos Familie Besuch von Physiotherapeutin Beate Kühnhold. Die Göttingerin hatte im Radio vom Schicksal der Familie gehört, zu der auch der schwerbehinderte Rashid gehört. "Da ich selbst einen behinderten Sohn habe, hat mich das doch sehr berührt", erzählt sie. Kurzerhand übernahm Kühnhold selbst die Physiotherapie für den Jungen - ehrenamtlich. Zweimal die Woche kommt sie und macht Übungen mit dem Jungen. Doch Rashid und seine Familie brauchen sehr viel Geduld. "Wir müssen anfangen wie bei einem kleinen Kind", erklärt Kühnhold. "Erst muss er anfangen zu kriechen, dann zu krabbeln und dann kann er eventuell laufen."
Streit in der Unterkunft
Streit und Schläge? So etwas gab es bisher nicht in der Göttinger Flüchtlingsunterkunft, in der der Syrer Abdo mit seiner Familie lebt. Nun hat ein Streit zwischen Kindern zu einer Auseinandersetzung zwischen Elternpaaren geführt. Sozialarbeiterin Julia Schneeweiß hat daher ein Treffen mit den betroffenen Eltern organisiert. Dabei wird klar: Weil die kurdischen Jesiden wie Abdo und seine Frau Ilham in ihrem Leben schon sehr oft ausgegrenzt und unterdrückt wurden, fühlen sie sich persönlich angegriffen. Denn bei dem Streit mit Muslimen wurden offenbar Vorurteile gegen die jesidische Minderheit laut. Schneeweiß appelliert an alle, Regeln einzuhalten. Dazu gehört: keine Gewalt. Außerdem sollen alle Eltern früher eingreifen, um Streitereien rechtzeitig zu stoppen.
Der Schulbesuch tut Rashid gut
Besuch im Sachkunde-Unterricht in der Schule: Mutter Ilham sitzt neben Rashid im Stuhlkreis der Förderschule und erzählt den Kindern, warum Rashid und seine Familie geflohen sind. Seit den Herbstferien besucht der schwerbehinderte Junge die Einrichtung der Diakonie Christopherus. Zu Hause in Syrien hatte der Junge dreimal die Woche Physiotherapie - aber Schule? Das konnte sich Mutter Ilham für ihn nicht vorstellen. Obwohl Rashid selbst in seinem Rollstuhl nicht lange sitzen kann und immer wieder hingelegt werden muss - der Unterricht fasziniert ihn sichtlich. Bis zu seinem zweiten Lebensjahr war der Junge gesund, dann baute er ab, konnte nicht mehr laufen und nicht mehr sprechen. Jetzt braucht der Zwölfjährige viele Medikamente und ständige Betreuung. Frühmorgens wird er mit dem Bus abgeholt und in die Schule gebracht. Erst nachmittags ist er wieder zu Hause. Ein langer Tag. "Aber es lohnt sich", sagt Mutter Ilham. Der Unterricht tut dem Jungen gut: "Wenn Rashid nach Hause kommt, dann ist er locker."
Rückblick auf die Zeit in der Türkei
Auf ihrer Flucht saß die Familie lange in der Türkei fest. Vater Abdo erzählt, wie es ihnen dort ergangen ist. "Wir haben hart gearbeitet, um die Miete bezahlen zu können. An keinem Tag hat jemand bei uns vorbeigeschaut, ob wir Hilfe brauchen." Auch seine Frau Ilham und Tochter Amira hätten Perlen und Pailletten auf T-Shirts gestickt. "Von 7 bis 19 Uhr. Auch die Kinder mussten so lange arbeiten." Die für ihren schwerbehinderten Sohn Rashid notwendigen Medikamente hätten sie in der Apotheke nicht bekommen, weil dazu bestimmte Dokumente erforderlich gewesen seien, die sie nicht hatten. Wegen der unzureichenden medizinischen Versorgung habe sich Rashids Zustand verschlechtert. Zudem hätten sie als kurdische Jesiden einer Minderheit angehört, die in der Türkei von der Regierung bekämpft werde - und deshalb viel Angst gehabt.
Auf der Suche nach Beschäftigung
Familienvater Abdo möchte endlich arbeiten. Doch die Familie hat noch immer keinen Asylbescheid. Einen Job annehmen darf er daher nicht. Eine Beschäftigung hat Abdo sich jetzt selbst gesucht: Er repariert kaputte Elektrogeräte - als Freundschaftsdienst. Einigen Familien in der Unterkunft hat er schon geholfen, wenn mal ein Toaster kaputt war oder der Staubsauger. In der eigenen Wohnung steht in der Ecke ein alter Fernsehapparat, den die Familie geschenkt bekommen hat. Auch ihn hat Abdo wieder zum Laufen gebracht. Er und seine Frau schauen darauf Nachrichten über die dramatische Lage in ihrer Heimat Aleppo.
Neujahrswünsche
Zu Silvester war die Familie von Ilham und Abdo nicht allein: Abdos Schwester kam mit ihrer Großfamilie zum Essen vorbei. Gemeinsam genossen sie das Feuerwerk - das auch in ihrer Heimat Aleppo zu Neujahr laut und bunt kracht. Für das neue Jahr wünscht Mutter Ilham sich ein besseres Pflegebett für den kleinen Rashid. Amira will besser Deutsch lernen, um ihrem Traum näher zu kommen: Ärztin werden. Die kleine Valentina hingegen ist schon froh über ein Lebkuchenhaus voller Gummibärchen.
Beim Singen werden Erinnerungen wach
Übersetzer Kamal Sido stimmt ein syrisches Volkslied an, die vierjährige Valentina und ihr fünfjähriger Bruder Alan stimmen ein. Später zieht sich Alan zurück, um zu malen. Das Bild zeigt einen brennenden Baum - vielleicht ein Olivenbaum im Afrin-Tal bei Aleppo. Von dort ist die Familie vor mehr als zwei Jahren geflohen. Eltern und Kinder haben Bombeneinschläge und Terror erlebt, Tote und Verletzte gesehen. Später singt Alan ein trauriges Lied über Afrin. Mutter Ilham kann die Tränen nicht zurückhalten. Sie sitzt auf ihrem Bett und weint.
Ein Stückchen Heimat auf den Tellern
Frühstück bei Abdos Familie: Für den Besuch vom NDR ist der Tisch gedeckt mit typisch syrischen Speisen, dazu gibt es Toast und süßen Tee. Das Einkaufen stellte die Eltern anfangs vor Schwierigkeiten, aber jetzt wissen sie, woher sie die Zutaten für ihr Essen bekommen können. Die Äpfel für eine Fruchtspeise stammen von einer öffentlichen Streuobstwiese. "Zu Hause habe ich unsere Marmelade auch immer selbst gekocht", erzählt Ilham.
"Chchchchchchch macht die Schlange"
Ilham sitzt im Spielzimmer der Flüchtlingsunterkunft und lernt zusammen mit anderen Frauen die ersten deutschen Wörter. Besonders schwer fällt ihr das "ch" - wie in "i-ch" und "spre-ch-en". Deutschlehrerin Biggi Zerres hat eine Idee. Sie zeigt das Foto einer Schlange: "Wie macht eine Schlange? Chchchchchchchch", sagt sie. Ilham versucht es. Beim späteren Rollenspiel klappt es schon ganz gut. "Ich wohne in Göttingen", sagt sie. Schwieriger ist es mit dem Lesen. Ilham kneift die Augen zusammen, weil sie die Buchstaben so schlecht erkennen kann. Eine geliehene Lesebrille schafft kurzzeitig Abhilfe. Aber eigentlich muss sie unbedingt einmal zum Augenarzt.
Amira wechselt in die 6. Klasse
Amira lernt so schnell Deutsch, dass sie schon nach wenigen Wochen zu ihren deutschen Altersgenossen in die sechste Klasse wechseln darf. "Darüber bin sehr froh", sagt die 13-Jährige.
Ein Pflegebett für Rashid
Heute ist ein besonderer Tag für Rashid: Er bekommt ein spezielles Pflegebett. "Das war dringend notwendig", sagt Sozialarbeiterin Julia Schneeweiß, die die Familie begleitet. Nun ist es für Mutter Ilham nicht mehr so schwierig, ihr Kind zu waschen und zu wickeln.
Bis zum Alter von zwei Jahren sei Rashid ein gesundes, fröhliches Kind gewesen, berichtet Ilham. Doch dann sei er von einem Tag auf den anderen schwer erkrankt. Seither ist sein Gehirn schwer geschädigt.
Wie ergeht es Rashid auf der Förderschule?
Dass Rashid eine Förderschule besucht, löst in Mutter Ilham zwiespältige Gefühle aus. In Syrien kümmerte sie sich den ganzen Tag um ihr Kind, nun sind einige Stunden am Tag andere Menschen bei ihm. "Es wäre gut, wenn wir einmal zusammen dorthin gehen könnten, um ihr die Ängste zu nehmen", sagt Sozialarbeiterin Julia Schneeweiß.
Auch deutsche Ärzte können keine Wunder vollbringen
Neun Tage lang haben die Göttinger Ärzte Rashid gründlich durchgecheckt. Die Mediziner verschreiben ihm dieselben Medikamente wie die, die er bereits in Syrien erhalten hat. Mutter Ilham ist etwas enttäuscht. Insgeheim hatte sie ein kleines Wunder erwartet.
Rashid kommt ins Krankenhaus
Rashid kommt zur Untersuchung für neun Tage ins Göttinger Krankenhaus. "Ich setze große Hoffnung auf die deutschen Ärzte", sagt seine Mutter.
Der erste Schultag
Für die Kinder strukturiert sich der Alltag von nun an neu: Die Kleinen kommen in den Kindergarten, die 13-jährige Amira besucht eine Hauptschule. Sie versteht bereits vieles auf Deutsch und freut sich, endlich wieder zur Schule gehen zu können.
Der elfjährige Rashid ist mehrfach behindert. Er kann hören, sehen und die Muskeln bewegen - aber nicht reden. Daher kommt er in eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung.
Umzug nach Göttingen
Ende August zieht die Familie nach Göttingen um. Für Abdo ist die kleine Wohnung in einer Flüchtlingsunterkunft "das Paradies". Hier hofft die Familie, zur Ruhe zu kommen.
"Das Wichtigste, was wir hier vorgefunden haben, ist Sicherheit", sagt Abdo, der in Syrien als Fahrer gearbeitet hat. Sozialarbeiterin Julia Schneeweiß betreut die traumatisierte Familie.
Ankunft in Bramsche
Abdo erreicht die Erstaufnahmeunterkunft in Bramsche. Seit März 2013 war er mit seiner Frau Ilham und den vier Kindern Amira, Rashid, Alan und Valentina auf der Flucht, um aus dem syrischen Afrin nach Deutschland zu kommen. Nach einem Giftgasangriff auf Aleppo fürchteten sie um ihr Leben. Zudem wurden sie - als Jesiden und Kurden - in Syrien besonders diskriminiert und von verschiedenen Gruppen als Feinde angesehen. Die Familie ist über die Türkei und Bulgarien nach Südniedersachsen gekommen.