Welt der Musik
Sonntag, 19. Februar 2023, 18:00 bis
19:00 Uhr
Gut zehn Jahre älter als Dmitri Schostakowitsch wird Boris Ljatoschynskyj gern als "Vater der ukrainischen Musik" charakterisiert. Ähnlich wie Schostakowitsch muss auch Ljatoschynskyj mit Repressionen und Zensur der Stalin-Ära fertig werden. Nach einer kurzen Phase der Lockerungen wird Ljatoschynskyj immer wieder vorgeschrieben, seine Musik optimistischer zu gestalten, zum Beispiel das Finale der dritten Symphonie. Die ukrainische Musikwissenschaftlerin Adelina Yefimenko spricht über Leben und Werk dieses so bedeutenden Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts. Dazu gibt es Klangbeispiele mit dem Kyiv Symphony Orchestra und Luigi Gaggero, die die erste, unzensierte Fassung der dritten Symphonie vor kurzem auf einer vielbeachteten Deutschland-Tournee gespielt haben: ein berührendes symphonisches Drama, in dem Ljatoschynskyj das Leben besingt, mit seinen tragischen wie tröstlichen Momenten.
Eine neue Generation ukrainischer Komponisten
Borys Ljatoschynskyj, geboren 1895 in Zhytomyr, gehört zu einer neuen Generation ukrainischer Komponisten, die eine kurze Phase größerer politischer wie kultureller Autonomie erleben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die Region einen Jahre andauernden Unabhängigkeitskrieg überstehen müssen. Nach 1921 dürfen die Menschen aber für eine kleine Weile etwas mehr Freiheiten genießen. Die Folge ist die Entfaltung einer lebendigen Kunstszene, zu deren führenden Mitgliedern Ljatoschynskyj gehört.
Ein Schüler Reinhold Glières
Ljatoschynskyj ist ein junger, hoffnungsvoller Musiker. Mit 18 kommt er nach Kiew, studiert Jura und Komposition bei Reinhold Glière, schließt beide Studiengänge ab und beginnt, selbst zu unterrichten. In den 1930er- und 1940er-Jahren ist er auch am Moskauer Konservatorium tätig, dazu als Mitglied der Jury des legendären Tschaikowsky-Klavierwettbewerbs. Gegen Ende der 1920er-Jahre setzt Stalin den Lockerungen ein plötzliches Ende. Die Entwicklung der ukrainischen Musik und die Einflüsse westeuropäischer Komponisten werden unterdrückt. Erst Mitte der 1950er-Jahre gelingt es vorwiegend Schülern von Ljatoschynskyj, mit dessen Beistand, wieder neue Wege zu gehen. Er stirbt 1968 in Kiew.
Ljatoschynskyjs Oeuvre
1919 entsteht die erste Symphonie Ljatoschynskyjs, 1924 die erste Klaviersonate. Er verwebt Einflüsse von Alexander Borodin, Peter Tschaikowsky sowie Alexander Skrjabin und interessiert sich für die Verbindung europäischer Entwicklungen mit ukrainischer Volksmusik. Insgesamt umfasst sein Oeuvre fünf Sinfonien und weitere Orchesterwerke, zwei Opern, ein Klavierkonzert, etliche Kammer- und Vokalmusik sowie Filmmusiken.
Die tragische Geschichte der dritten Symphonie
Über 30 Jahre nach der ersten Symphonie erlebt die dritte 1951 im Rahmen einer Tagung ukrainischer Komponisten in Kiew eine erfolgversprechende Uraufführung. Aber die sowjetische Zensur ist sofort wieder da (wie schon bei der zweiten Symphonie): Ljatoschynskyj sieht sich diesmal mit der Forderung konfrontiert, das Finale optimistischer zu gestalten, weniger ambivalent im musikalischen Ausdruck. Außerdem soll das Motto getilgt werden: "Der Friede wird den Krieg besiegen". Die Symphonie steht erst 1955 wieder in Leningrad auf einem Konzertprogramm. Jewgeni Mrawinski dirigiert dabei die Leningrader Philharmoniker.
Eine Sendung von Raliza Nikolov.