Welt der Musik
Donnerstag, 21. November 2024, 19:00 bis
20:00 Uhr
Wie erinnern wir Geschichte, wie können wir der Vergangenheit gedenken, eine Verbindung mit ihr spüren, mit ihr leben? Diesen Fragen geht der US-amerikanische Musikwissenschaftler und Historiker Jeremy Eichler in seinem 2024 auf deutsch erschienenen Buch "Das Echo der Zeit" nach. Der Untertitel lautet "Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege" und so richtet Eichler, der mehr als 20 Jahre als Chefkritiker für klassische Musik beim "Boston Globe" gearbeitet hat und derzeit als Professor für Musikgeschichte an der Tufts University in Boston tätig ist, den Blick auf vier herausragende Komponisten des 20. Jahrhunderts. Sie alle haben die Kriegsjahre aus völlig unterschiedlichen Perspektiven erlebt - aufgrund ihrer Lebenswege, ihrer Haltung und ihrer Verortung: die Komponisten Arnold Schönberg, Richard Strauss, Benjamin Britten und Dmitri Schostakowitsch. Alle Vier reagierten auf die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust mit einem "extrem aufgeladenen Mahnmal an Tönen - was eine Reihe von Werken ergab, die mit die wichtigsten moralischen und ästhetischen Stellungnahmen des 20. Jahrhunderts darstellen" - so formuliert es Eichler zu Beginn seines Buches.
Schönberg, Strauss, Britten und Schostakowitsch
Die vier Werke sind "A Survivor from Warsaw", von Schönberg 1947 im amerikanischen Exil komponiert - das erste große Musikstück, das den Opfern des Holocaust ein künstlerisches Denkmal setzt. Schostakowitschs "Babi Jar"-Sinfonie in Erinnerung an die 1941 in der Schlucht von Babi Jar bei Kiew ermordeten Juden, Brittens pazifistisches "War Requiem" und die Metamorphosen von Richard Strauss, die dieser aus Trauer um seine zerbombte Heimatstadt München schrieb.
Nicht nur wir erinnern uns an Musik, sagt Jeremy Eichler, auch Musik erinnert sich an uns als Gesellschaft: "Wenn sich Komponisten an ihren Schreibtisch setzen, dann destillieren sie Welten aus Fantasie und Emotionen, vielleicht auch aus der Gesellschaft, in der sie zu dieser Zeit leben. Und sie bringen Noten auf ein Blatt Papier - sagen wir mal vor 200 Jahren. Und dann hören wir eine Aufführung dieses Stückes. Wir hören, wie die Noten 200 Jahre später in Klang umgewandelt werden. Wir hören in einem sehr direkten Sinne, wie die Vergangenheit nun erneut spricht - in der Gegenwart. Und in diesem Sinne kann uns Musik diese vergangenen Zeiten nahebringen. Sie stellt die objektive Distanz der Geschichte in Frage. Sie bringt uns das nahe, was fern ist."
Berührend und akribisch recherchiert
Eichler zeichnet die Lebenswege der vier Komponisten nach, erklärt gesellschaftliche Zusammenhänge. Er stützt sich dabei nicht nur auf Quellen: "Für mich ist es immer so wichtig, die Landschaft zu sehen, die Häuser, die Straßen, die Berge, die Plätze, wo diese Komponisten waren, wo ihre Kunst entstanden ist und wo sie ihr Leben gelebt haben. Das bringt immer eine neue Perspektive in mein Verständnis, auch wenn ich sie nicht immer so leicht artikulieren kann."
Zehn Jahre hat Jeremy Eichler an seinem Buch "Das Echo der Zeit" gearbeitet. Entstanden ist ein beeindruckendes Werk. Detailgetreu, äußerst sorgfältig recherchiert - der Anhang mit Quellenangaben umfasst allein an die 60 Seiten. Es ist tiefgründig und hat einen höchst humanistischen Anspruch.
Jeremy Eichler im Gespräch
Eva Schramm hat sich mit Jeremy Eichler Anfang November über sein Buch und seine ausgiebige Recherche unterhalten. Auch darüber, welche Relevanz seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen für unsere Zeit haben. Mit Ausschnitten aus Schönbergs "A Survivor from Warsaw", Strauss‘ "Metamorphosen", Brittens "War Requiem" und Schostakowitschs 13. Sinfonie "Babi Jar" zeichnet sie die Geschichte und Bedeutung der vier großen Werke der Nachkriegszeit nach.