NachGedacht: Keine engen Grenzen
Zum Wochenbeginn ereilte uns, neben dem anderen Welten-Ungemach, etwas speziell Ärgerliches und Trauriges. Etwas, von dem man dachte, dass es lange hinter uns liegt: Grenzkontrollen. Ein Kommentar.
Als Kind in der Grenzregion zu den Niederlanden aufgewachsen, entsinne ich mich genau des speziellen Grusels, den jede Grenzquerung mit sich brachte: die Autoschlange, der strenge Blick der Beamten. Ich erinnere mich auch noch, wie meine Schwester, ihr damaliger Freund und ich als kleines Kind einmal aussteigen mussten, das Auto wurde komplett auseinandergenommen - junges Paar, Kennzeichen einer Stadt, die damals dafür bekannt war, linke Terroristen zu beherbergen …
Oder, natürlich, die Grenze zur DDR! Auch so ein Angstgegner, ein furchteinflößendes Gebilde, dessen schauerliche Kraft auch in den eigenen Vorstellungen entstand und dem Wissen darum, dass viele Menschen hier ihr Leben lassen mussten. Diese Angst vor dem Scheitern der Grenzüberquerung, die wir selbst im Transit immer spürten, die Ohnmacht und das Ausgeliefertsein - was, wenn wir nicht reindürfen, durchdürfen, zurückgewiesen werden oder Schlimmeres?
Angst vor Machtverlust führt zu populistischen Maßnahmen
Im Kindergottesdienst lernten wir ein Lied mit dem heute sehr passenden Text:
"Meine engen Grenzen,
meine kurze Sicht
bringe ich vor dich
wandle sie in Weite,
Herr, erbarme dich."
Warum verengen wir uns selbst unsere Grenzen wieder? Sie waren doch so geweitet? Ein großer weiter Kontinent, ein Europa. Nur, weil elende, hetzende, hassverbreitende, rechte Demagogen die Regierung vor sich hertreiben? Sodass sie vor lauter Angst vorm Machtverlust zu diesen populistischen Maßnahmen greift? Da gehen so fantastische Errungenschaften kaputt: die Wirklichkeit gewordenen Visionen eines geeinten Europas, in dem man frei ziehen, frei studieren und arbeiten kann.
Offene Gesellschaft kann viel bringen
Mir ist klar, dass die offene Gesellschaft auch Gefahren birgt, so naiv, dass ich komplett unkontrollierte Einreisen von allüberall nach allüberall befürworte, bin ich nicht. Aber die offene Gesellschaft kann auch so viel Gewinn bringen und uns bereichern, weil das Gegenteil, eine Abschottung in beide Richtungen, Ungleichheit befördert: Wenn ich andere ausschließe oder aber einschließe, erzeuge ich Neid und Wut.
Selbst dann, wenn der Einsatz von Grenzen gerechtfertigt sein sollte - wie bei der Coronapandemie etwa. Die habe ich als Korrespondentin in Singapur erlebt; der reiche und vermeintlich gesunde Stadtstaat igelte sich ein und riegelte sich ab - und tausende von Familien litten, weil schlecht bezahlte Lohnarbeiter, die ansonsten ins Nachbarland Malaysia pendelten, schweren Herzens in der Stadt blieben. Mütter konnten ihre Kinder nicht stillen, Väter blieben mehr als ein Jahr getrennt von ihren Söhnen und Töchtern. Über die Meerenge hinweg winkten sie sich zu. Grenzen bereiten Schmerzen.
Wahre Worte vom britischen Dichter John Donne
Ich bin stolze Bürgerin der Vereinigten Staaten von Europa, habe seit Schengen diese grenzenlose Freiheit genossen, in Manchester studiert - wie so viele Erasmus- und Sokrates-Studierende meinen eigenen Horizont erweitern können. Ach, aber Manchester, Großbritannien - auch dort haben machthungrige Politiker billigen Populismus für Machtspiele genutzt, den Inselstaat auf wahnwitzige Weise aus der EU herausgelöst und weiter verinselt.
"Niemand ist eine Insel, in sich selbst vollständig. Jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Ganzen." Als der britische Dichter John Donne diese Worte im 17. Jahrhundert schrieb, hatte er wohl noch nicht die EU vor Augen. Aber er wusste, dass wir alle als Gesamtheit die Menschheit ausmachen. Ohne Grenzen.
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