NDR Kultur Literaturredakteur Alexander Solloch vor einer Backsteinwand. © NDR Foto: Manuel Gehrke
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AUDIO: Nachgedacht: So geht die Gewalt weiter (4 Min)

Nachgedacht: So geht die Gewalt weiter

Stand: 07.06.2024 00:01 Uhr

Körperliche und verbale Gewalttaten schockieren die Republik. Der Schrecken aber erzeugt keine Stille mehr, sondern immer neues, aggressives Geschwätz, findet Alexander Solloch.

von Alexander Solloch

Die Gewalt hört nicht da auf, wo jemand, von ihr tödlich getroffen, zu Boden sinkt. Die Gewalt geht unaufhörlich weiter in unserem Reden über sie. Wir haben in den vergangenen Jahren unsere Fähigkeit, Wutworte schnellstmöglich in die Welt zu werfen, perfektioniert, aber darüber leider verlernt, entsetzt innezuhalten und zu trauern. Wie furchtbar muss es sein für die Opfer von Gewalt und ihre Angehörigen, wenn ihre Schicksale nur für Stories missbraucht werden, deren Plot eh immer schon feststeht.

Gefühlte Wahrheiten statt tatsächlichem Geschehen

Nach dem Messerattentat von Mannheim waren in Onlineforen, aber auch in Diskussionen mit realen Menschen sehr schnell drei Leitmotive einer instrumentalisierenden Grobrhetorik festzustellen. Sie orientierten sich nur an gefühlten Wahrheiten, nicht an dem, was tatsächlich geschehen war: Behauptet wurde, über diesen - mutmaßlich islamistischen - Anschlag werde von den klassischen Medien kaum berichtet, während sich noch wenige Tage zuvor die ganze Republik über die "Ausländer raus!"-Rufer von Sylt in eine fieberhafte Erregung hineingesteigert habe. Tatsache ist, dass sowohl der Angriff selbst als auch der Tod des Polizisten in allen Zeitungen, Radio- und Fernsehnachrichten und allen seriösen Onlinemedien breitesten Raum bekamen.

Seriöse Medien liefern Fakten, keine Namen von Privatpersonen

Behauptet wurde sodann, zur Identität des Mannheimer Täters hätten sich die Medien ausgeschwiegen, wo doch noch wenige Tage zuvor in Windeseile die vollständigen Namen der Sylt-Krakeeler öffentlich gemacht worden seien. Tatsache ist, dass die seriösen Medien alles, was die Behörden über den Attentäter bekanntgegeben hatten, auch sofort berichteten. Die Namen der ausländerfeindlichen Sänger von Sylt waren in Onlineforen von Privatpersonen enthüllt worden; seriöse Medien hatten mit diesem in der Tat beklemmenden Pranger nichts zu tun.

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Und schließlich wurde behauptet, nach Sylt habe die Politik mit Verdammungsurteilen keine Sekunde gezögert, zu Mannheim hingegen schweige sie. Tatsache ist, dass alle maßgeblichen Politikerinnen und Politiker ihr Entsetzen über den Messerangriff auf dem Mannheimer Marktplatz geäußert hatten, manche gingen sogar weit über die üblichen, routiniert eingeübten Betroffenheitsfloskeln hinaus, etwa der baden-württembergische Ministerpräsident und sein Innenminister. Ihren Worten war ehrlichste Trauer anzumerken - Trauer, die zunächst einmal gar nichts anderes zulässt als das Gefühl, völlig aus der Bahn geworfen zu sein.

Braucht es immer einen Schuldigen?

Menschen, deren Empfindungsvermögen noch nicht verdorrt ist, haben gehofft, gebangt und gebetet um das Leben des jungen Polizisten. Daneben aber gibt es die Getriebenen ihrer Agenda, die immer schon in der Sekunde nach einem schrecklichen Ereignis ganz genau wissen, welche Menschengruppen unbedingt sofort abgeschoben werden müssen und wer schuld an allem ist. Alice Weidel behauptete am Wochenende vor johlenden Sympathisanten, die Bundesinnenministerin habe darum gebeten, keine Videos vom Mannheimer Attentat zu teilen, um nicht der AfD in die Hände zu spielen; das sei "eine Schande" und "widerwärtig". Einen Tag später musste Weidel zugeben, eine Fake-Meldung verbreitet zu haben; trotzdem, fand sie, stimme der Tenor ihrer Kritik. Man kann dieser Frau nicht nachsagen, einen übermäßig wertvollen Beitrag zum Kampf gegen die Gewalt zu leisten.

Warum muss man sich für eine Seite entscheiden?

Warum sollte es eigentlich nicht möglich sein, Sylt schlimm zu finden und zugleich von Mannheim erschüttert zu sein? Warum kann man nicht um ermordete Israelis ebenso trauern wie um in den Tod bombardierte Palästinenser? Das Leben ist doch kein Fußballstadion, in dem man sich für eine Partei entscheiden muss! "Proisraelisch" oder "propalästinensisch", was ist das nur für ein Unsinn. Die einzige akzeptable Entscheidung lautet: contragewalttätig, promenschlich.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 07.06.2024 | 10:20 Uhr

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Rechtsextremismus

Sylt

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