Nachgedacht: Olaf Scholz und das Geschrei
Die Eröffnung der Leipziger Buchmesse war teilweise sehr laut, Olaf Scholz musste sich mit Störern auseinandersetzen. Was war denn da in Wahrheit los?
Es hatte schon so ungewöhnlich begonnen. Man hatte uns gebeten aufzustehen und ein Schild hochzuhalten, das wir auf unseren Plätzen vorgefunden hatten: "Demokratie wählen. Jetzt." Und fast alle im Gewandhaus standen auf und hielten ihr Schild in die Höhe, und die Leipziger Buchmesse hatte gleich ihre Bilder, die um die Welt ziehen sollen.
Wenig später schien es kurz doch wie immer zu sein. Leipzigs Bürgermeister Burkhard Jung schmetterte seinen Lieblingsspruch "endlich wieder Buchmesse!" in den Saal und konnte dann aber nicht anders, als einen verzweifelten Appell loszuwerden: "Lasst uns reden über Frieden statt über Krieg!" Ja, das Reden über Frieden, ein Ding, recht inniglich zu wünschen, nur leider so schwer zu haben in diesen dunklen Zeiten. Ein bisschen Gebrüll wirkt jetzt heftiger aufs Gemüt als ein ganzes Publikum mit gut gemeinten Schildern. Es war nämlich so, dass bald nach Jung Olaf Scholz ans Rednerpult trat.
Scholz spricht in anti-brillant-stoischer Manier
Scholz sprach ein bisschen übers Lesen und das Zulassen neuer Gedanken, oder sagen wir lieber: Er wollte sprechen. Denn fast sofort unterbrachen ihn Schreie, eine Stimme, gellend von hinten im Saal, schwer bis nicht verständlich, manche hörten etwas von Genozid und von Blut an den Händen. Scholz, in unvergleichlicher anti-brillant-stoischer Manier, las seinen Redetext weiter vor, er wirkte auf mich hilflos-trotzig-tapfer, drang aber nicht mehr durch und versuchte es endlich mit einem robusten "Hör auf zu brüllen, Schluss!" Sprach dann wieder - und das Geschrei hub wieder an, eine neue Stimme jetzt, aus einer anderen Ecke des Saals. Eine dritte Stimme wurde schließlich vom Publikum durch laute Buh-Rufe übertönt.
Was war passiert? Lautstärke hatte Lautstärke provoziert. Ein offenbar im Manuskript stehender Satz, der zufällig gerade dran war, wurde von Scholz per Körperdrehung in Richtung der Geschrei-Quelle geschleudert und bekam einen ungeplanten Sinn: "Folgen wir denen nicht, die uns spalten wollen!" Ja, löblich, ja, richtig, ja, unbedingt. Nur: Wie macht man das? Es tat schon gut, dass das Publikum zum Ausdruck brachte, wie sehr ihm das Geschrei missfiel. Aber hatte es nicht vielleicht, laut gegen laut, das Spaltungsangebot ungewollt angenommen? Scholz erklärte noch, die "Macht des Wortes", nicht die "Macht des Geschreis" habe uns zusammengeführt, irgendwann waren alle Schreier aus dem Saal geführt, die Macht des ungebrüllten Worts war wieder hergestellt, Scholz konnte zu Ende reden.
In der Welt des Geschreis ist es mit dem Zuhören schwer
Es blieb aber dem Preisträger des Abends vorbehalten, dem israelisch-deutschen Philosophen Omri Boehm, am Ende der viel zu langen Feier das Fällige zu sagen: Einen niederzubrüllen, wenn er spreche - das sei ein "awful mistake", die Brüller zerstörten gegen auch von ihnen selbst in Anspruch genommene Ideale die "Institution der öffentlichen Rede". Also ist es richtig, ihr Gebrüll zu stoppen. Aber es reicht nicht hin. Vielleicht verbirgt sich hinter dem Geschrei ein Anliegen, sogar ein Argument, das gehört werden will? Boehm sprach dann sehr klug und menschlich über Brüderlichkeit, Wahrheit und Freundschaft und meinte auch Freundschaften zwischen jüdischen Israelis und Palästinensern, Freundschaften, die es bei einer verdunkelten Öffentlichkeit trotz allem noch immer gebe. Den Massenmord vom 7. Oktober als "bewaffneten Widerstand“ feiern? Für Boehm ist das der "moralische Bankrott". Wenn aber andererseits alles, was sein Land in Gaza tue, "Selbstverteidigung" heiße, beschäme das zutiefst seine eigene Identität.
Deswegen und dagegen: Freundschaft! Die palästinensisch-jüdische. Und die deutsch-jüdische, die "ein wahres Wunder" sei, das es aber nur geben kann, wenn Platz darin ist für schwierige Wahrheiten. Großer Applaus, alle standen jetzt auf. Was tat die Moderatorin? Dankte für "ausgewogene Worte" zum Nahost-Konflikt. Das war so schräg wie falsch wie schematisch und brachte noch mal beklemmend zum Vorschein, wie ungeheuer schwierig es ist in dieser Welt des Geschreis mit dem Zuhören und dem Verstehen und dem treffenden Wort.