Nachgedacht: Im Schneckentempolimit
Verkehrsminister Volker Wissing hat sich in dieser Woche mal wieder gegen ein Tempolimit ausgesprochen - das sei keine Lösung für den Klimawandel, und die Leute wollten es auch nicht.
Wozu die Raserei? Eigentlich hat kein anderes Land auf der Welt KEIN generelles Tempolimit. Die Mehrheit der befragten Deutschen hätte auch gerne eins - und sowieso fahren die wenigsten Automobilisten schneller als 130 km/h. Für welche womöglich besserverdienende Minderheit also macht sich der Verkehrsminister der entsprechenden Partei da stark? Für diejenigen, die mit Potenzprotzerei in der Straßenlage eventuelle Mängel an anderer Stelle kompensieren wollen? (Keine Scherze an dieser Stelle über Pole Positions.) Für vom Mythos Autobahn angezogene Touristen, die einmal im Leben den rasenden Roland spielen wollen, frei und unbehelligt - wie der tschechische Milliardär, der mit 417 km/h seinen Bugatti zwischen Hannover und Berlin ausfahren musste? Was zum Henker hat es mit der Idee des "immer schneller, ohne Grenzen" auf sich? Limits sind super!
Immer größer, weiter, besser?
Limits bringen weniger Stress. Mit Tempolimit müsste ich mich nicht mehr auf der Autobahn im Überholvorgang scheuchen lassen, nur weil ein übermotorisierter und unterbestückter Raser sein Ego ausreitet. Limits lassen innehalten - muss alles immer beschleunigter, gehetzter, immer optimierter sein? Immer größer, weiter, besser? Viele Grenzen sind erreicht, auch die des Wachstums - und die des rüpeligen Rasens sollten es ebenfalls sein.
Der Wert sollte eher darin liegen, zu bewahren, was wir haben - und das käme besser zur Geltung, wenn wir langsamer machen und sehen, was vor uns ist, anstatt es im Rückspiegel ratzfatz hinter uns liegen zu lassen. Wer einmal versucht hat, mit Kleinkind zu Fuß einen Weg von normalerweise zwei Minuten zurückzulegen, der weiß, dass daraus gefühlt ein ganzes Erdzeitalter werden kann: in dem eine Schnecke bewundert und auf ihrem Pfad begleitet wird, in dem ein Bagger bei der Arbeit beobachtet wird, die Pusteblume in der Gehsteinritze gesichtet, gepflückt und verpustet wird oder überlegt wird, ob der Fleck an der Hauswand gegenüber eher aussieht wie ein Einhorn oder wie ein Hirschkäfer. Ach, wie riecht eigentlich Hirschkäferkacke? Tja, große Fragen und schönste Entdeckungen. All das auf 75 Metern.
Die Welt im Hyperspeed-Wahn
Dass das Bedürfnis nach Entschleunigung groß ist, hat der enorme Andrang auf die Caspar David Friedrich-Ausstellung in Hamburg gezeigt: Denn was war zu sehen? Bilder der Einkehr, der Kontemplation und der stillen Aussicht auf Wolkenmeer, Himmel, Mondsichel und anderes. Andere Hit-Ausstellungen befassen sich mit Sonnenuntergängen (wie in Bremen) oder dem Wald (derzeit in Frankfurt) - alles keine rasanten Themen, aber etwas, das das Publikum rasend interessiert. Weil es der Seele gut tut und nötig ist in einer Welt im Hyperspeed-Wahn.
Der große Andrang auf Caspar David Friedrichs Bilder führte dazu, dass die Ticket- und Besucherzahlen für die Ausstellung limitiert wurden. Interessanter Effekt: Wer etwas Limitiertes ergattert, fühlt sich besonders, ausgezeichnet. Und während wir in Deutschland einfach ein generelles Tempolimit einführen und dabei nebenbei noch Millionen Tonnen CO2 einsparen, können wir doch eine limitierte Auflage von Raser-Erlaubnissen teuer verkaufen! Für den Nürburgring zum Beispiel - denn die Attraktion des unbegrenzten Rasens scheint auch im Ausland so groß, dass einem in der Fremde immer wieder Menschen begegnen, die ehrfürchtig raunen: "Oh, you’re from Germany - you have the Autobahn! No speed limit!"
Für eines ist das Reizthema Tempolimit mit Sicherheit gut: für garantierte Aufregung - seh' ich ja an mir selbst. Wie von der Tarantel gestochen springe ich in die geistige Luft und empöre mich in verbalen Rasereien. Müsste auch mal mehr entschleunigen. Oh! Eine Weinbergschnecke - halt, nicht so schnell!
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