Nachgedacht: Keine Panik - Vom plötzlichen Zerfall des Universums
Wie kann man etwas Gelassenheit finden in all den fürchterlichen Wirren dieser Welt? Kolumnist Alexander Solloch stellt fest: Hilfe kommt von der Teilchenphysik.
Von Zeit zu Zeit tut dem Menschen ein kleiner Schwindel ganz gut; er bewahrt ihn vor Anmaßung und Übermut, diesen entsetzlichen Depressionsschleudern. Manchmal, wenn einem plötzlich philosophisch zumute wird - oder, wahrscheinlicher, prokrastinierend -, fragt man sich doch: Woraus bin ich noch gleich hervorgegangen, und wie genau hat der ganze Quatsch begonnen?
Wie sieht die Zukunft des Universums aus?
Und dann liest man nach, welches - immer natürlich nur in Maßen gesicherte - Wissen der hochbegabte Teil der Menschheit sich bislang über die Entstehung des Universums, dessen Ausdehnung und Zukunft zurechtgelegt hat. Als leidlich Normalbegabter hat man natürlich seine liebe Not, auch nur einen kleinen Teil all dieser Theorien und Rechenkunststücke wirklich zu begreifen. Aber allein schon die leise Ahnung davon, wie im Weltraum Zufälle und Gesetzmäßigkeiten krachend aufeinanderprallen und auf diese Weise eine Konstellation von Körpern und Himmelskörpern hervorbringen, die ebenso gut auch ganz anders modelliert sein könnten, lässt einen doch gedanklich und eigentlich auch im Wortsinne taumeln (den Rest erledigt die Schwerkraft).
Wie nichtig, unbedeutend und zufällig wir und unsere kleinen Probleme doch sind! Kurz vor seinem 95. Geburtstag ist Anfang dieser Woche der britische Physiker Peter Higgs gestorben. Vor einigen Jahren sagte er in einem Interview, in der heutigen akademischen Welt würde er keinen Job mehr bekommen, weil er einfach nicht produktiv genug sei. Er aber erlebte noch eine Zeit, in der er ganz in Ruhe forschen konnte, ohne die Notwendigkeit, seine Publikationsliste stetig zu verlängern, weil die Menschheit damals - in den 1960er-, 1970er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts - noch nicht entdeckt hatte, wie sehr Druck, Hektik und Stress das Leben verbessern.
Das Universum will einen anderen Zustand
Stattdessen entdeckte Peter Higgs auf diese Weise etwas immerhin auch ganz Hübsches, ein Teilchen, das hilft, die Zusammensetzung der Materie und damit die Anfangsbedingungen des Universums zu erklären, ja, Antworten zu finden auf die Frage: Was ist in der Welt? Keinem anderen Elementarteilchen ist die Ehre widerfahren, nach seinem Entdecker benannt zu werden - das Higgs-Teilchen ist eben einzigartig. Es entsteht in einem Feld - naturgemäß dem Higgs-Feld -, das den einzelnen Elementarteilchen in einer Wechselwirkung überhaupt erst ihre Masse verleiht; täte es das nicht, könnte die Welt nicht so funktionieren, wie sie es tut. Wenn Sie die Einzelheiten interessieren, kommen Sie zweifellos auf bessere Ideen als die, sie sich von einem Literaturredakteur erklären zu lassen.
Aber eine Überlegung ist mit dem Higgs-Teilchen verbunden, die niemanden, keine Klempnerin und keinen Kellner, keinen Sozialarbeiter und keine Seiltänzerin, keine Landwirtin und keinen Literaturredakteur kalt lassen kann: Teilchenphysiker sagen, dass die Masse des Higgs-Teilchens selbst in einem Bereich liegt, der das - offenbar ohnehin schon nicht übermäßig stabile - Universum auf Dauer vollends instabil machen könnte, und was tut unterdessen das Universum? Es wehrt sich nicht einmal dagegen, im Gegenteil, es möchte sogar - in den Worten des amerikanischen Physikers Joseph Lykken - "einen anderen Zustand annehmen". Gut, das wollen vielleicht wir alle. Aber der Wille des Universums ist wirkmächtiger, er könnte hinauslaufen auf: völligen Zerfall, ohne messbare Vorwarnung.
Alles kann plötzlich vorbei sein
"Keine Panik", fügen die Wissenschaftler hinzu, das kann durchaus noch ein paar Milliarden Jahre dauern, aber genauer können sie's auch nicht sagen. Da geht's dann nicht mehr um Mathematik, sondern um Metaphorik: Das exzentrische Higgs-Teilchen weist uns überdeutlich darauf hin, dass von einer Sekunde auf die nächste alles plötzlich vorbei sein kann. Wer trotzdem allen Ernstes weiterhin seine Energie und Masse daran verschwenden will, sein Vermögen zu mehren, Mitmenschen zu beschimpfen oder blutige Kämpfe um die Fiktion von "Macht" auszutragen, statt einfach herumzusitzen, sich von der Frühlingssonne bescheinen zu lassen und sich am Unsinn des Lebens zu erfreuen, dem ist wirklich nicht zu helfen. Matthias Sammer hat in diesem Sinne vor ein paar Tagen einen wunderschönen Satz gesagt: "Wer Fußball gucken darf, dem geht's gut." Am Ende dieser Woche könnte diese Theorie endgültig Beweiskraft erlangt haben.