Nachgedacht: Streit-Streik in der Dauerschleife
Deutschland streitet und streikt - ob auf den Schienen, in der Luft, auf den Straßen. Immer mehr Menschen sind über den Bewegungsstillstand sauer. Es ist dringend an der Zeit, der Nerverei etwas Positives abzugewinnen. Probieren wir es mit Perspektivwechsel?
Normalerweise redet man, wenn einem etwas nicht passt. Man verständigt sich, tauscht Meinungen und Standpunkte aus, manchmal wird es dabei lauter, es wird gestritten, gefrotzelt, geärgert. Und wenn alles gut geht, verträgt man sich am Ende. Man geht Kompromisse ein, findet zueinander und schließlich eine Lösung. Das ist vernünftiges, pragmatisches Handeln, das man sich als friedfertiger Mensch so vorstellt. Doch wie wir wissen, sind Lagen komplex, Streitsituationen und Positionen mitunter verfahren.
Der nächste Streik kommt gewiss
Beispiel Fortbewegung in Deutschland: Wer sich von A nach B bewegen möchte, braucht momentan auf allen Wegen Zeit, Geduld, Glück und die Gabe, strategisch und logistisch denken und flexibel agieren zu können. Weselsky macht den letzten Streikversteher sauer. Zum wievielten Mal hat der "letzte Punk der Republik", so das neueste Zeitungsetikett für den Gewerkschaftschef der Lokführer, Züge gestoppt, uns alle genervt mit seiner beharrungsintensiven, unnachgiebigen Art? Geht es ihm tatsächlich um die 35-Stunden-Woche, mehr Lohn und Sonderzulagen oder schlicht ums Prinzip? Die Streitfronten sind verhärtet, der beste Beziehungscoach lässt hier ratlos die Schultern sinken. Der nächste Streik, er kommt gewiss. Ob auf der Schiene, im Luftverkehr, bei den "Öffis", bei Bussen, Straßen- und U-Bahnen - Deutschland im Streik, hintereinander, parallel, alles ist möglich. Schöne neue widersetzliche Welt! Die Stimmung ist miserabel, Streik frisst Zeit und nagt am Nervenkostüm.
Gibt es Alternativen? Ich sage: Ja, innere Gelassenheit, positives Denken und Bewegung. Leicht gesagt, bei der letzten Verweigerung der Straßenbahnen habe ich es getan. Ich hatte keine langen Strecken von Hannover nach München zu bewältigen, sondern nur den Weg zur Redaktion. Gute 40 Minuten für den einfachen Weg habe ich gebraucht. Zeit, die natürlich woanders fehlt. Und ich bin gegangen und nach ein paar Metern überkam mich das Gefühl, gehend an der frischen Luft, das tut gut, macht happy. Nicht immer lief ich geradeaus, ich drehte die ein oder andere Kurve, entdeckte Neues.
Riken Yamamoto: Erlebbare Ästhetik in der Stadt
Der Philosoph Walter Benjamin war ein Fußgänger, ein Flaneur. In seinem Passagenwerk beschreibt er Paris als "Welt geheimer Affinitäten", wo "niedrige Notdurft und frecher Luxus widersprechende Verbindung eingehen". Er sah die Stadt als Labyrinth, als Ort, an dem "Irrkünste", "Traum" und "Markt" zusammenkommen.
Das Idealbild einer Stadt sieht heute, 2024, anders aus, als Benjamin vor rund hundert Jahren die Stadt erlebte. Visionen aber werden immer geträumt, damit sie dann auch die Chance zur Umsetzung haben. Gerade erst wurde der japanische Architekt Riken Yamamoto für sein Werk mit dem Pritzker-Architekturpreis ausgezeichnet. Auch ihn begeistert der Markt, auf dem das gesellschaftliche Leben stattfinden kann mit Verkauf, Handel, Austausch, Gespräch. Für den Züricher Flughafen baute der heute 78-jährige einen "Circle", wo sich Geschäfte mit einer Parkanlage kongenial verbinden. Die Bauten Yamamotos, weltberühmt, stehen für Interaktion. Seine Architektur soll Menschen mit ihren Bedürfnissen, ihren Wünschen, ihren Träumen und Aktionen verbinden. Ästhetik in der Stadt, die sichtbar und erlebbar ist.
Vielleicht können Streiks als produktive Störungen gesehen werden, die uns zwingen, den Blick zu ändern, die Perspektive zu wechseln. Vielleicht kann dann richtig der "Punk" abgehen.