Eine kleine Sensation: Neue rekonstruierte Kantaten von Bach
Viele Werke der klassischen Musik sind nur bruchstückhaft überliefert. Genau deshalb umgibt sie ein besonderer Zauber: Wie mögen diese Werke geklungen haben? Rekonstruktionen lassen sie hörbar werden.
"In irgendwelchen Archiven oder in irgendwelchen Speichern und Kellern schlummern wahrscheinlich noch die verrücktesten Partituren, aber wenn man das sozusagen serviert bekommt und dann zum Leben erwecken darf, das ist eine ganz privilegierte Aufgabe", sagt Dirigent Holger Speck stolz. Er hat vor einiger Zeit ein Päckchen vom Carus Verlag erhalten - darin drei Partituren. Es waren drei nur unvollständig überlieferte, nun rekonstruierte Kantaten von Johann Sebastian Bach, die er einspielen durfte.
Die Rekonstruktion von Musik: Eine Reise durch die Zeit
Um historische Musikwerke, die nicht vollständig erhalten sind oder deren Aufführungspraxis verloren gegangen ist, wieder zum Leben zu erwecken, werden sie rekonstruiert. Ziel ist es, die Musik so authentisch wie möglich zu interpretieren und aufzuführen, oft unter Berücksichtigung der Instrumente, Spieltechniken und stilistischen Merkmale der jeweiligen Epoche. Das kann das Studium von alten Noten, Manuskripten und historischen Quellen umfassen, um die ursprüngliche Intention des Komponisten und die Aufführungsbedingungen der damaligen Zeit zu verstehen. Eine fundierte Kenntnis des Œuvres des jeweiligen Komponisten ist natürlich hilfreich. Auch bei Johann Sebastian Bach versucht man sich immer wieder an Rekonstruktionen - wichtig ist hierbei, dass genügend Material vorhanden ist, um ein sinnvolles Rekonstruieren überhaupt erst möglich zu machen.
Masaaki und Masato Suzuki: Bach in besten Händen
Zu vielen Vokalwerken Bachs liegen heutzutage sowohl die autographe Partitur, also das handgeschriebenes Manuskript, als auch der von Bach benutzte Stimmensatz vor. Das verdanken wir Menschen, wie Carl Philipp Emanuel Bach, dem zweitältesten Sohn von Johann Sebastian, der das Werk seines Vaters bewahren wollte. Im Falle der Kantate "Singet dem Herrn ein neues Lied" gibt es beide Quellen, die aber beide unvollständig sind. Holger Speck erklärt: "Man weiß von einem Titelblatt die Gesamtbesetzung mit einem dreistimmigen Trompetenchor, der zugeordneten Pauke, einem dreistimmigen Oboenchor, dem zugeordneten Fagott, den Streichern, zwei Geigen und Bratschen, und den Singstimmen sowie dem Basso Continuo. Davon erhalten waren nur die Streicher- und die Gesangsstimmen. Zu ergänzen waren also der gesamte Bläserapparat und das Continuo. Das war für die Rekonstrukteure viel Arbeit - die ich aber für sehr gelungen halte. Denn das motivische Material ist ausschließlich aus dem des Chorsatzes und der Streicher gewonnen. Das macht den Satz musikalisch einheitlich und schlüssig." Rekonstruiert wurde "Singet dem Herrn ein neues Lied" von Masaaki und Masato Suzuki. Sie sind Vater und Sohn, Dirigenten und Cembalisten und Gründer des renommierten Bach Collegiums Japan. Beide sind bestens mit der Musik Bachs vertraut, seine Werke bei ihnen in den besten Händen. "Ich habe liebevoll und sorgfältig recherchiertes und rekonstruiertes Material vorgefunden", freut sich Speck.
Rätsel gelüftet: Das Gloria der h-Moll-Messe? Eine Parodie!
Neben "Singet dem Herrn ein neues Lied" waren auch die Partituren von "Alles, was von Gott geboren" und "Ehre sei Gott in der Höhe" in besagtem Päckchen enthalten. Bei letzterer hat Holger Speck eine musikwissenschaftlich hoch interessante Entdeckung gemacht: "Als ich die Partitur in den Händen hielt, traute ich meinen Augen nicht! Ich dachte, ich sehe hier den Anfang des Gloria der h-Moll-Messe. Das Vorwort und die Kommentare der Rekonstrukteure haben dann erklärt, dass das, was ich vor mir hatte, die Rekonstruktion des verloren gegangenen Originals zur h-Moll-Messe ist. Das bedeutet, das Gloria der h-Moll-Messe ist eine Parodie dieses rekonstruierten Originals. Das ist eine unglaubliche Sache - sehr faszinierend auch deshalb, weil man in der Welt der Musik seit jeher erstaunt war, dass es in der autographen Partitur der h-Moll-Messe bei zwei Sopranen keine fünfstimmige Fuge gibt. Das ist ungewöhnlich, weil Bach alle fünf Stimmen, die er zur Verfügung hatte, auch alle immer thematisch bedacht hat. In der großen 'Et in terra pax'-Fuge im Gloria gibt es allerdings keine vierstimmige Fuge, der zweite Sopran kommt nur am Ende mit Schlussfloskeln bei den Kadenzen etc. dazu. Das Rätsel ist nun also gelüftet: Das Original war vierstimmig, sodass sich die Ergänzungen zur Fünfstimmigkeit in der h-Moll-Messe, daraus erklären, dass deren Rahmenbesetzung eben fünfstimmig war."
Festkantaten zu Weihnachten und Neujahr
Die Kantate "Singet dem Herrn ein neues Lied" wurde von Bach für einen ganz besonderen Tag im Jahr geschrieben: den 1. Januar, genauer: Neujahr 1724. Das ist im aufmunternden Gestus spürbar. Damit ist sie im Gesamtschaffen Bachs eine der groß besetzten Festkantaten, "eine Huldigungskantate", so Speck, "an das neue Jahr, in der Bach Virtuosität und Innerlichkeit verbindet." Auch die zweite der rekonstruierten Kantaten "Ehre sei Gott in der Höhe" ist eine Festkantate. Das wird schon an der Besetzung deutlich: Pauken und Trompeten waren der Ehrerweisung - in diesem Fall - der geistlichen Herrlichkeit vorbehalten. Im gleichnamigen Chor dieser Kantate jubilieren drei Trompeten symbolisch mit den Engeln. Es ist der erste Satz einer Weihnachtskantate. Hier gab es nur eine Quelle - und die war fragmentarisch. Zum Teil waren Besetzungsangaben nicht überliefert, auch nicht die Soloinstrumente. So musste der niederländische Organist und Musikwissenschaftler Pieter Dirksen, der das Werk rekonstruiert hat, seine Entscheidungen aus der historischen Spielpraxis heraus treffen.
Eine Einspielung durchdacht bis in die Phrasierungen
Holger Speck hat die CD "Rekonstruierte Kantaten 'Friede auf Erden'" mit dem Vocalensemble Rastatt, dem Originalklang-Ensemble Les Favorites und einem sorgfältig ausgesuchten Solistenquartett aufgenommen: dem Schweizer-Amerikanische Countertenor Terry, der aus Österreich stammenden Sopranistin und OPUS Klassik-Preisträgerin Miriam Feuersinger sowie Tenor Florian Sievers und Bassist Sebastian Noack. "Bei den Solisten habe ich drauf geachtet, dass die Stilistik den Stimmen nicht fremd ist und dass die Sänger sehr nahe an der Deklamation, also an der ästhetischen Stilistik von Bach sind." So vermag das Ensemble die melodischen Linien sinnvoll zu betonen, zu artikulieren und zu phrasieren.
Historisch informiert ja, aber bitte nicht übertreiben
Dazu spielt Les Favorites auf "historisch informierte" Weise. Speck betont: "Historisch informiert ist nicht gleich museal" und fügt hinzu: "Auch wenn es ein bisschen nach Museum klingt. Alte Instrumente zu benutzen und dann zu hoffen, dass die Musik möglichst alt klingt - damit ist es nicht getan." Historisch informiert zu spielen ist vielmehr der Versuch jenem Klangbild nahe zu kommen, das dem jeweiligen Komponisten womöglich vor Augen gestanden haben mag. Dabei ergeben sich Fragen nach der Balance zwischen den Instrumenten, zwischen den Sängern und den Instrumenten sowie Fragen nach der Lautstärke. Doch ganz genau wissen es weder Musiker*innen noch Wissenschaftler*innen, wie die Kompositionen Bachs geklungen haben. Speck fügt außerdem hinzu: "Wir müssen die Werke mit heutigen Ohren, Herzen und Fingern spielen und aufpassen, dass wir uns nicht darin erschöpfen, nur zu versuchen, möglichst original zu rekonstruieren. Stattdessen sollten wir mit einem aktuellen Impetus und gegenwärtigen Emotionen musizieren."