Schumanns Dichterliebe - frei nach Kristjan Randalu
Der estnische Pianist interpretiert die berühmten Kunstlieder von Schumann rein instrumental. Dann dauert ein Stück, das im Original 30 Sekunden lang ist, auch gerne mal fünf Minuten. Ein Gespräch.
16 romantische Kunstlieder mit Texten von Heinrich Heine, komponiert von Robert Schumann: So kennt man die Dichterliebe für gewöhnlich. Der mehrfach ausgezeichnete Jazz- und Klassik-Pianist Kristjan Randalu wagt eine ungewöhnliche Neuinterpretation: Ohne Text, nur mit Klavier solo und mit improvisierten Passagen. Auf diese Weise überträgt der estnische Künstler die Dichterliebe in seine eigene musikalische Sprache. Bei NDR Kultur EXTRA stellt er einige der Lieder vor und erläutert sein Konzept.
Dein Programm ist interessant, weil Du Schumann auf seine ganz eigene Art und Weise interpretierst. Über den Liedzyklus "Dichterliebe" habe ich immer gehört, dass das Klavier und die Stimme so eng umschlungen sind wie zwei Liebende. Jetzt hast Du die beiden wieder auseinandergerissen. Warum hat sich das für Dich angeboten?
Kristjan Randalu: Ich habe das Original vor langer Zeit gespielt. Wir hatten ein Duo und haben an diesem Repertoire gearbeitet. Dadurch habe ich diese Musik kennengelernt. Parallel zu dieser Zeit und auch später noch, hat es mich mehr zur Jazz-Musik hingezogen. Ich hatte meine eigenen Projekte und habe meine eigene Musik geschrieben. Dann sind immer wieder Situationen dazugekommen, in denen ich klassische Vorlagen bearbeitet habe. Ich habe sie als Grundlagen genommen, unter anderem auch für Improvisationen. Dann ist die naheliegendste Frage: 'Was gibt es noch für Standards?' Es war spannend, klassische Stücke zu betrachten und zu schauen, was die musikalische Essenz ist, wie ist sie aufgebaut und wie man sie wieder aufbrechen kann. Die Töne sind schließlich nicht in Stein gemeißelt. Diese Stücke haben Leute geschrieben, die die Musik erst mal kreativ geschrieben und dann gespielt haben. Für mich war es wichtig, diesen spielerischen Ansatz wiederzufinden.
Als ich das erste Mal in Dein Album gehört habe, musste ich an meine eigene Schulzeit denken und daran, wie es war, wenn man Gedichte im Deutschunterricht behandelt hat. Hast Du Dich für diese sprachliche Ebene schon immer interessiert?
Randalu: Von der schulischen Seite habe ich keinen Bezug zu den Texten von Heine. Zumindest kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Wenn es um die musikalische Arbeit am Original ging, dann war ich der Pianist. Es ging erstmal darum, wie wir das musikalisch umsetzen: Wie ist die Dynamik, wie sind die Tempi, wie gehe ich mit dem Sänger mit? Diese Sprachnuancen waren nicht von mir auszuführen. Bei der jetzigen Fassung sind die Überschriften erhalten geblieben, denn das sind die Titel der Stücke, woran man sie erkennt. Ich habe die Stücke nicht abstrahiert, sondern die sind in ihren Strukturen und der Originalreihenfolge erhalten geblieben. Aber ich muss ehrlich sagen, dass der Text für mich musikalisch, jetzt in dieser Phase, keine Rolle mehr spielt. Ich weiß selber, dass, wenn man Musik zu Papier bringt und einen Text schreibt, der Text das Wichtigste ist. Denn der bestimmt den Rhythmus, die Form und die Stimmung. Er ist wie ein Flussbett, in den man etwas reingießen muss. Aber nachdem ich den Text aus dieser Fassung entfernt habe, wird die Musik im positiven Sinne wieder offen und auch abstrakt.
Welche Emotionen erlebst Du in diesen Stücken, unabhängig von der textlichen Ebene?
Randalu: Ich glaube, da kommt man wieder an ganz grundsätzlichen Ebenen an: Ist es intensiv, oder nicht; ist es laut oder leise; ist es langsam oder schnell; gibt es eine Spannung oder eine Entspannung? Da ergeben sich neue Bögen, weil das Original, je nach Interpretation, eine knappe halbe Stunde dauert. Die Fassung, die ich spiele, pendelt sich irgendwo zwischen 65 und 70 Minuten ein. Je nachdem, wie sich gewisse Kadenzen oder freie Teile gestalten lassen. Das gewinnt dadurch eine ganz eigene Dynamik.
Was würdest Du sagen, ist der größte Unterschied von Deiner eigenen Version zum Original?
Randalu: Stücke oder Passagen, die im Original 30 Sekunden lang sind, sind nun ungefähr fünf Minuten lang. Mein Ziel war es, keine klassische Klaviertranskription zu machen. Das gibt es zum Beispiel von Liszt, der Lieder für das Klavier umgeschrieben hat. Ich wollte einen Rahmen für freie Ansätze schaffen. Das heißt, es gibt keine Situation, wo ich die Melodien als Ausgangspunkt nehme und ganz frei schaue, was passiert, sondern ich habe zu jedem Stück sehr konkrete Ideen gehabt. Die habe ich auf Notenpapier aufgeschrieben und bearbeitet. Die neuen Fassungen sind also sehr konkret notiert.
Das Gespräch führte Charlotte Oelschlegel.