Dirigentin werden - Frauen erobern eine Männerdomäne
Lange war Dirigieren ausschließlich ein Beruf für Männer, doch das ändert sich langsam. Immer mehr junge Frauen interessieren sich fürs Dirigieren: Laut Deutschem Musikrat wählen zunehmend Frauen das Studienfach an deutschen Musikhochschulen.
"Ich war in der Türkei sehr schüchtern und zurückhaltend. Ich dachte, ich habe gar keine guten Ideen oder ich kann das nicht. Dann bin ich mit 17 Jahren nach Deutschland gekommen", erzählt Doğa Çetin. Sie ist 23 Jahre alt und will Dirigentin werden. Sie studiert an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg im ersten Semester.
Doğa Çetin: Durchs Dirigieren sich selbst finden
Am Abend steht ein Konzert an - Mozart, groß besetzt mit Orchester und Chor. Beides zusammen dirigieren - das hat Çetin noch nie gemacht: "23 ist sehr jung für eine Dirigentin. Ich bin auch auf diesem Weg, weil ich mich finden will. Das ist manchmal nicht einfach, aber man muss als Dirigent:in erst einmal sich selbst sehen können, damit man auch die anderen Leute und die Musik sehen kann."
Die Generalprobe wird begleitet von Professor Ulrich Windfuhr. Er hat in seiner Karriere unzählige Orchester auf der ganzen Welt dirigiert. "Eigentlich entscheidet sich das in zehn Sekunden, ob jemand das Material hat, um sich in dem Beruf durchzusetzen", sagt Windfuhr. "Bei einer Aufnahmeprüfung werden von 80 Bewerbern drei oder zwei genommen. Sie wissen sofort: 'Ah ja!' Das Bild divergiert oft von der Erscheinung. Plötzlich passiert da etwas und dann denkt man: 'Ja, hallo!' Das kann man nicht mit Worten beschreiben. Das kann man auch nicht erklären: Das ist eine Aura, die funktionieren muss."
40 Prozent Frauenanteil im Studiengang Dirigieren in Deutschland
Wenige Stunden vor dem Konzert darf Çetin das Stück zum ersten Mal selbst dirigieren. Ihr Professor hat es zuvor mit dem Orchester einstudiert. An der Hamburger Musikhochschule studieren momentan sieben Frauen und acht Männer. Bundesweit liegt der durchschnittliche Frauenanteil laut Deutschem Musikrat bei knapp 40 Prozent - Tendenz steigend.
"Es waren immer Männer, als ich klein war - große Männer, die ganz ernst sind. Ich dachte nicht, dass ich die Möglichkeit habe, das zu machen", erklärt Çetin. "Dann habe ich mit der Zeit auch Frauen gesehen, bin nach Deutschland gekommen, habe mit Frauen und vielen jungen Menschen gearbeitet - und auch mit Männern, die nicht so ernst und böse sind. Dann dachte ich, es gibt doch einen Weg."
"Man muss akzeptieren, dass man viel kämpfen muss"
"Ich würde sagen, vor 50 Jahren hatte eine Frau keine Chance. Heute haben Frauen fast genauso viele Chancen wie Männer, wenn sie sehr gut sind - vielleicht sogar noch mehr", glaubt Windfuhr. Diese Chancen schlagen sich aber bislang nicht in Führungspositionen nieder: Von allen 129 öffentlich finanzierten Berufsorchestern in Deutschland haben momentan nur vier eine Frau als Chefdirigentin.
"Natürlich gibt es viel Konkurrenz. Ich glaube, man muss am Anfang wahrnehmen und akzeptieren, dass man viel kämpfen muss", sagt Çetin. "Das war auch für mich ein großer Punkt, wo ich gesagt habe: Wage ich es? Wenn man 'ja' sagt, gibt es keinen Grund, sich über die Konkurrenz einen Kopf zu machen. Wenn es funktioniert, wird es sich lohnen. Wenn es nicht funktioniert, habe ich für mich gekämpft."
Dieser Beitrag ist Teil der arte-Doku "Twist - Wie wird man Dirigentin".