Dirigentin werden - Frauen erobern eine Männerdomäne

Stand: 02.03.2024 06:00 Uhr

Lange war Dirigieren ausschließlich ein Beruf für Männer, doch das ändert sich langsam. Immer mehr junge Frauen interessieren sich fürs Dirigieren: Laut Deutschem Musikrat wählen zunehmend Frauen das Studienfach an deutschen Musikhochschulen.

von Stefan Mühlenhoff

"Ich war in der Türkei sehr schüchtern und zurückhaltend. Ich dachte, ich habe gar keine guten Ideen oder ich kann das nicht. Dann bin ich mit 17 Jahren nach Deutschland gekommen", erzählt Doğa Çetin. Sie ist 23 Jahre alt und will Dirigentin werden. Sie studiert an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg im ersten Semester.

Doğa Çetin: Durchs Dirigieren sich selbst finden

Am Abend steht ein Konzert an - Mozart, groß besetzt mit Orchester und Chor. Beides zusammen dirigieren - das hat Çetin noch nie gemacht: "23 ist sehr jung für eine Dirigentin. Ich bin auch auf diesem Weg, weil ich mich finden will. Das ist manchmal nicht einfach, aber man muss als Dirigent:in erst einmal sich selbst sehen können, damit man auch die anderen Leute und die Musik sehen kann."

Die Generalprobe wird begleitet von Professor Ulrich Windfuhr. Er hat in seiner Karriere unzählige Orchester auf der ganzen Welt dirigiert. "Eigentlich entscheidet sich das in zehn Sekunden, ob jemand das Material hat, um sich in dem Beruf durchzusetzen", sagt Windfuhr. "Bei einer Aufnahmeprüfung werden von 80 Bewerbern drei oder zwei genommen. Sie wissen sofort: 'Ah ja!' Das Bild divergiert oft von der Erscheinung. Plötzlich passiert da etwas und dann denkt man: 'Ja, hallo!' Das kann man nicht mit Worten beschreiben. Das kann man auch nicht erklären: Das ist eine Aura, die funktionieren muss."

Weitere Informationen
Sonja Lachenmayr © Johannes Dubbrick / Munich.pix Foto: Johannes Dubbrick

Sonja Lachenmayr über Geschlechter-Gerechtigkeit im Dirigierberuf

"Ich habe das Gefühl, dass Frauen immer besser sein müssen als ein mittelmäßiger Mann", sagt die Dirigentin über ihren Beruf. mehr

40 Prozent Frauenanteil im Studiengang Dirigieren in Deutschland

Wenige Stunden vor dem Konzert darf Çetin das Stück zum ersten Mal selbst dirigieren. Ihr Professor hat es zuvor mit dem Orchester einstudiert. An der Hamburger Musikhochschule studieren momentan sieben Frauen und acht Männer. Bundesweit liegt der durchschnittliche Frauenanteil laut Deutschem Musikrat bei knapp 40 Prozent - Tendenz steigend.

"Es waren immer Männer, als ich klein war - große Männer, die ganz ernst sind. Ich dachte nicht, dass ich die Möglichkeit habe, das zu machen", erklärt Çetin. "Dann habe ich mit der Zeit auch Frauen gesehen, bin nach Deutschland gekommen, habe mit Frauen und vielen jungen Menschen gearbeitet - und auch mit Männern, die nicht so ernst und böse sind. Dann dachte ich, es gibt doch einen Weg."

"Man muss akzeptieren, dass man viel kämpfen muss"

"Ich würde sagen, vor 50 Jahren hatte eine Frau keine Chance. Heute haben Frauen fast genauso viele Chancen wie Männer, wenn sie sehr gut sind - vielleicht sogar noch mehr", glaubt Windfuhr. Diese Chancen schlagen sich aber bislang nicht in Führungspositionen nieder: Von allen 129 öffentlich finanzierten Berufsorchestern in Deutschland haben momentan nur vier eine Frau als Chefdirigentin.

"Natürlich gibt es viel Konkurrenz. Ich glaube, man muss am Anfang wahrnehmen und akzeptieren, dass man viel kämpfen muss", sagt Çetin. "Das war auch für mich ein großer Punkt, wo ich gesagt habe: Wage ich es? Wenn man 'ja' sagt, gibt es keinen Grund, sich über die Konkurrenz einen Kopf zu machen. Wenn es funktioniert, wird es sich lohnen. Wenn es nicht funktioniert, habe ich für mich gekämpft."

Dieser Beitrag ist Teil der arte-Doku "Twist - Wie wird man Dirigentin".

Weitere Informationen
Cate Blanchett im Film "Tàr", der von einer Star-Dirigentin der Berliner Philharmoniker handelt © Copyright 2022 Focus Features

"Tár": Cate Blanchett brilliert als eiskalte Dirigentin

Die oscarnominierte Australierin spielt die Dirigentin eines Berliner Orchesters. Ein Film, so übergroß, wie es ihn nur alle paar Jahre geben kann. mehr

Mirga Gražinytė-Tyla © LA Philharmonic Foto: Vern Evan

Mirga Gražinytė-Tyla: Blitzkarriere am Dirigentinnenpult

Die Litauerin ist eine echte Senkrechtstarterin. Schon mit 29 wurde sie Chefdirigentin des Birmingham Symphony Orchestra. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur - Das Journal | 04.03.2024 | 22:45 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Klassik

Porträt

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur sucht Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Hände halten ein Smartphone auf dem der News-Channel von NDR Kultur zusehen ist © NDR.de

WhatsApp-Channel von NDR Kultur: So funktioniert's

Die Kultur Top-News aus Norddeutschland direkt aufs Smartphone: NDR Kultur ist bei WhatsApp mit einem eigenen Kanal aktiv. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Porträt von Philipp Schmid © NDR Foto: Sinje Hasheider

Philipps Playlist

Philipp Schmid kennt für jede Lebenslage die richtige Musik. Egal ob Pop, Klassik oder Jazz. Träumt Euch zusammen mit ihm aus dem Alltag! mehr

Peter Urban © NDR Foto: Andreas Rehmann

Urban Pop - Musiktalk mit Peter Urban

Spannende Stories, legendäre Konzerte, bewegende Begegnungen: Peter Urban hat viel erlebt und noch mehr zu erzählen. mehr

Mehr Kultur

Der Franzose Patrick Naudin und der Direktor der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek Robert Zapf bei der Übergabe von persönlichen Gegenständen aus dem Nachlass von Wolfgang Borchert. © NDR Foto: Peter Helling

Zurück in Hamburg: Wolfgang Borcherts Milchzahn und ein Wunschzettel

Die Mutter des Hamburger Autors überließ einst einer Deutschlehrerin in Frankreich ein paar persönliche Gegenstände ihres Sohnes. mehr