Bachs "Johannespassion": Was macht sie besonders?
Bald 300 Jahre ist es her: Im Karfreitagsgottesdienst am 7. April 1724 erklang die "Johannespassion" von Johann Sebastian Bach zum ersten Mal - in der Nikolaikirche von Leipzig. Noch heute wird sie an Karfreitag in vielen Kirchen im Norden gespielt. Wie ist die Musik entstanden und was macht sie so besonders?
Höchst originell wie experimentierfreudig, lautmalerisch, expressiv, dicht, oft atemlos, all diese Charakterisierungen passen auf die "Johannespassion" von Johann Sebastian Bach - und sind doch nur unvollendete Annäherungen an ein einzigartiges Werk, das die unterschiedlichsten Persönlichkeiten zu bemerkenswerten Äußerungen bewegt hat. Der Komponist Hans Werner Henze schrieb 1983, es kämen in dieser Musik Dinge zur Sprache, die bis dahin mit Tönen zu sagen niemand gewagt, niemand vermocht oder auch nur versucht hatte. Der Philosoph Albert Schweitzer hatte 1908 in seinem Bach-Buch die "Johannespassion" in wenigen Worten so beschrieben: "Der Passionsbericht des Johannes ist in der Hauptsache nur eine Schilderung der großen Gerichtsszenen vor dem Hohenpriester und Pilatus. Er hat etwas Aufgeregtes und Leidenschaftliches an sich. Diese Eigenart hat Bach erfasst und in seiner Musik wiedergegeben."
Passionsaufführungen zur Karfreitagsvesper in Leipzig
Der Passionstext basiert auf der Lutherübersetzung des Johannes-Evangeliums. Das Johannes-Evangelium ist geprägt von der vergleichsweise knappen Schilderung von der Gefangennahme Christi bis zum seinem Begräbnis. Bach musste sich den Regeln der Leipziger Kirchen beugen: Dort gehörte die Passionsmusik noch fest zur Liturgie der Karfreitagsvesper und musste deshalb den vollständigen Evangelientext enthalten. Durch freie Dichtung und Choralstrophen durfte er ergänzt werden. Bachs Amtsvorgänger als Thomaskantor in Leipzig, Johann Kuhnau, hatte diese musikalisch angereicherten Passionsaufführungen gerade eingeführt. Das muss Bach gefallen haben, denn er nutzte die erste Gelegenheit, die sich ihm bot, um daraus eine Tradition zu machen.
Das Libretto
Bach hat den Bericht des Johannes an zwei bemerkenswerten Stellen ergänzt: Die Worte nach dem Hahnenschrei, wo klar wird, dass Petrus Jesus verraten hat, und die Schilderung des Erdbebens sind dem Matthäus-Evangelium entnommen. So erweitert Bach die knappe Schilderung bei Johannes und gibt ihr weitere musikalische Kraft. Der Erzählung des Evangelisten gegenübergestellt sind in Arien und Ariosi die persönlichen Reaktionen des einzelnen Individuums auf das Geschehen. Die Choräle spiegeln die Gefühle der Gemeinde. Vielleicht hat Bach die Arientexte, die sich an ein damals sehr beliebtes Passionsoratorium anlehnen, "Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus" des so wirkmächtigen Hamburger Dichters Barthold Heinrich Brockes, selbst angepasst. Von ungeheurer Wirkung sind die Chöre der Juden, die Musik, die Bach schreibt, klingt nahezu modern, spannungsvoll, ein Sinnbild der wie entfesselten Menge.
Zu sehr dem Operngenre angenähert?
Lange Zeit stand die in vielen Passagen dramatische, leidenschaftliche "Johannespassion" im Schatten der viel umfangreicheren Matthäuspassion von Bach, hatte doch Felix Mendelssohn Bartholdy mit seiner Wiederaufführung der Matthäuspassion 1829 in Berlin zur Bach-Renaissance entscheidend beigetragen.
Aber längst ist die zu Bachs Zeit als "zu sehr dem Operngenre angenähert" kritisierte "Johannespassion" aus diesem Schatten herausgetreten, beide Passionen werden auch szenisch aufgeführt. Peter Sellars betonte die Gegenwärtigkeit der "Johannespassion" mit ihren vielen "Heimlichtuereien und gleichzeitig der unverhohlenen Brutalität. Bach möchte den Zwiespalt von Menschen zeigen, deren Herz weiß, was richtig ist, die aber unter gesellschaftlichem Druck stehen oder um ihren Ruf fürchten. Das ist kein Stück für Leute, die alles zu wissen meinen, sondern eines für Suchende, für Menschen, die immer wieder von vorne anfangen." Und Simon Rattle fügte hinzu: "Wenn man diese Musik zum ersten Mal hört, ist man einfach nicht vorbereitet auf dieses wogende Klangmeer und diese Dissonanzen". Beide gemeinsam haben vielbeachtete szenische Aufführungen beider Passionen auf die Bühne gebracht.
Auch wenn Bach selbst nie an inszenierte Aufführungen seiner Passionen gedacht hat, betont doch auch der große Bach-Dirigent John Eliot Gardiner in seiner monumentalen Bach-Monographie die "unerreichte Bildhaftigkeit" schon des Orchestervorspiels zu Beginn der "Johannespassion" mit seinen ins Mark gehenden Dissonanzen und den Spannungsbogen an musiktheatralischer Intensität. Interessant: Dieser geht für ihn weit über alles hinaus, was Opernpartituren der damaligen Zeit zu bieten hatten.
NDR Kultur sendet am 24. März 2024 ab 17 Uhr eine Einspielung der "Johannespassion" aus dem Jahr 2018 mit dem NDR Vokalensemble und der NDR Radiophilharmonie unter Leitung ihres langjährigen Chefdirigenten Andrew Manze.