Stand: 06.01.2016 19:44 Uhr

"Hamburg war ein Sprungbrett für Boulez"

Pierre Boulez © picture-alliance / dpa Foto: Lehtikuva Kimmo Mäntylä
Pierre Boulez starb am Dienstag im Alter von 90 Jahren.

Die Musikwelt trauert um Pierre Boulez, einen der Köpfe der Neuen Musik. Als Komponist und Dirigent hat er das Musikleben jahrzehntelang mitgeprägt. Noch im vergangenen Jahr wurde er mit dem Bach-Preis des Hamburger Senats ausgezeichnet. Jetzt ist der Franzose im Alter von 90 Jahren gestorben.

Er brachte nach dem Krieg einen neuen Klang in die Musik - und er war ein Rebell. In einem "Spiegel"-Interview schlug er 1967 vor, die alten Opernhäuser einfach zu sprengen. Sie würden für Neue Musik nichts taugen und seien nur so etwas wie ein Museum. Nach dem Interview mit der Sprengung führte die Schweizer Polizei Boulez 30 Jahre lang als potenziellen Terroristen und verhaftete ihn noch im Jahr 2001 nach einem Auftritt in Basel morgens um 4 Uhr spektakulär. Ein Bürgerschreck. NDR 90,3 sprach mit Andrea Zietzschmann, Leiterin des Bereichs Orchester und Chor beim NDR über seine Bedeutung.

Sie haben mit Pierre Boulez auch zusammengearbeitet, haben ihn oft getroffen. Wie radikal war er denn?

Andrea Zietzschmann: Man muss sagen, er war eigentlich eine noble und vornehme Persönlichkeit. Man hätte ihn im ersten Moment nicht als radikal eingestuft, er war nicht einer der Wilden, die auf die Straße gingen und demonstrierten. Aber er war natürlich in seinem Schaffen sehr radikal, was seine Kompositionen anging - und später auch beim Dirigieren.

Bei Ihrem Treffen, auch im Schwarzwald, war er eher ein intellektueller, vergeistigter Typ? Oder auch einer, der abends einen Schoppen getrunken hat und etwas Herzliches hatte?

Zietzschmann: Er hatte beides. Er hatte sehr viel Charme und auch sehr viel Witz, aber man musste sich immer anstrengen, wenn man bei ihm saß. Er war natürlich ein Intellektueller, sehr belesen, kannte sich in allen Themen sehr gut aus. Man musste sich immer bemühen, im Dialog mithalten zu können. Aber er war ein wunderbarer Gesprächspartner. Sehr liebevoll und liebenswert.

Er hat auch oft hier beim NDR gearbeitet. Welche Rolle spielte Hamburg für Boulez?

Zietzschmann: Ich glaube, für Boulez war der NDR wirklich wichtig in den 1950er- und 60er-Jahren. Er war zum ersten Mal 1957 beim NDR zu Gast und hat auch regelmäßig das NDR Sinfonieorchester dirigiert. Wir haben ihm einen Kompositionsauftrag gegeben, das war ein Werk, das er hier auch uraufgeführt hat. Man konnte ihn als Dirigenten, als Komponisten erleben. Er saß hier am Klavier. Ich glaube, er hat den NDR damals geschätzt als Forum, in dem er auch experimentieren und neue Dinge ausprobieren konnte.

Also war Hamburg auch ein Sprungbrett für ihn?

Zietzschmann: Ja - NDR das neue werk hatte in den 50er- und 60er- Jahren eine ganz wichtige Rolle. Hier konnte Boulez seine neuen Werke wunderbar präsentieren. Er hat ja das serielle Komponieren mit erfunden und auf den Weg gebracht, und er hatte hier eine Plattform für seine Konzerte.

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Wenn Klassik-Kenner den Namen Pierre Boulez hören, was klingt dann bei Ihnen an? Welche Assoziationen kommen da?

Zietzschmann: Zunächst einmal denkt man an Modernität, an Radikalität, an Musik, die schwer zugänglich ist. Aber man muss sich, wie bei anderen zeitgenössischen Werken auch, auf seine Musik einlassen und vor allem live im Konzert erleben. Seine Musik ist von Strawinsky und Webern, aber auch von Debussy und Messiaen beeinflusst, Klangfarbe und Poesie spielen auch bei ihm eine wichtige Rolle.

In Bayreuth hatte er den Ring dirigiert, ganz spektakulär. Das war ein Meilenstein. Welchen Stellenwert hatte Pierre Boulez für die Musikwelt? War er eher der Komponist oder eher der Dirigent?

Zietzschmann: Ich glaube, beide Facetten seines Arbeitens waren enorm wichtig. Ich bin der Meinung, die musikalische Welt des 20. Jahrhunderts ohne Boulez ist gar nicht denkbar. Er hat neben seinem Komponieren und Dirigieren an Hochschulen gelehrt, Orchester wie das Ensemble Intercontemporain gegründet, er hat ein Institut für elektronische Musik ins Leben gerufen, das Ircam in Paris. Er hat erst vor ein paar Jahren in Luzern eine Akademie für junge Musiker gegründet, die sich dezidiert mit der zeitgenössischen Musik und deren Aufführungspraxis beschäftigt. Er war ein Motor und Ideengeber für Großprojekte, hervorragend vernetzt und auch mit verantwortlich, dass die Philharmonie in Paris gebaut wurde. Ohne ihn wäre vieles in der Musik nicht möglich gewesen.

Das Gespräch führte Daniel Kaiser.

Dieses Thema im Programm:

NDR 90,3 | Kulturjournal | 06.01.2016 | 19:00 Uhr

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