Franz Schubert, Frédéric Chopin schwul? Undenkbar!
Überall Regenbogenfahnen, eine Christopher Street Day-Demo wie jetzt zur Pride Week in Hamburg, sind fast Normalität. Klassische Musik ist da kaum vertreten. Das Konzertprojekt "Forget Me Not" will das ändern.
Der Hamburger Sänger Tim Stolte war sauer. So richtig sauer. Als der Bass-Bariton, der häufig am Theater Lübeck singt, vor vier Jahren ein Radiofeature hörte: "Da ging es um Chopin mit dem Titel 'Chopin war schwul und niemand sollte davon erfahren'." Ihn habe das wütend gemacht - und es bescherte ihm ein neues Hörerlebnis. "Ich habe die Musik von Chopin plötzlich ganz anders wahrgenommen mit dieser Information."
Chopins explizite Liebeserklärungen an Männer
Ein Musikredakteur des Schweizer Rundfunks nahm damals den Corona-Lockdown zum Anlass, um eine 1200-seitige Briefsammlung von Chopin zu studieren. Darin fanden sich reihenweise explizite Liebeserklärungen, alle an Männer. Doch die Pronomen von Chopins Liebhabern wurden umgeschrieben - das Männliche gegen das Weibliche getauscht. Die Recherche schlug hohe Wellen: Frédéric Chopin - der Nationalheld der Polen: ein schwuler Mann?
"So what?", könnte man meinen - doch für Tim Stolte ist das gerade wichtig, um sich in die Gedankenwelt von Künstler*innen hineinfühlen zu können: "Die Personen, auch in der Historie, eben die Komponist*innen, die mussten sich ja damals vor Ausgrenzung fürchten." Sie hätten nicht frei die Person sein könne, die sie waren. "Das hatte natürlich gerade im künstlerischen Bereich Auswirkung auf das Werk hat von Künstler*innen."
Kann man klassische Musik absolut sehen?
Lässt sich Musik wirklich immer losgelöst von der Lebensgeschichte der jeweiligen Künstler*innen betrachten? Lassen sich Werk und Biografie voneinander trennen? Tim Stolte glaubt, beides bedingt sich: "Es wird oft bei klassischer Musik davon gesprochen, die Musik absolut zu sehen, und da finde ich, ist noch sehr viel Nachholbedarf."
Klar ist: Das Thema "Queerness" ist in der Klassik-Szene immer noch ein Rand-Phänomen. Auch in der Musikwissenschaft. Schon Ende der 80er-Jahre stellte der amerikanische Musikwissenschaftler Maynard Solomon die These auf, dass der Komponist Franz Schubert schwul gewesen sei. Und kratzte damit an einem Tabu. Für die einen: interessanter Denkanstoß, für die anderen: Blasphemie.
Seitdem habe sich in der Musik-Szene nicht viel verändert. LGBT-Biografien würden verdrängt – marginalisiert – unsichtbar gemacht, findet Stolte. "Also ich glaube, dass bei vielen noch als Gedanke drinsteckt, dass Homosexualität oder Queerness einen Makel für die Künstler*in darstellt." Gerade bei Schubert sei das sehr kontrovers diskutiert worden: "Darf man den 'heiligen Schubert' mit Queerness beschmutzen? Das ist einfach ein homophober Gedankengang, der dahinter steckt", sagt Stolte.
Moderierter Song-Abend mit Werken queerer Komponist*innen
Der Bass-Bariton wollte das ändern. Und hat ein Konzertprojekt gestartet – namens "Forget Me Not" – zu deutsch: Vergiss mich nicht! Ein moderierter Song-Abend, in dem bekannte Komponist*innen gespielt werden, die eine LGBT-Biografie haben. Benjamin Britten oder Leonard Bernstein stehen zum Beispiel auf dem Programm, die australische Komponistin Peggy Glanville-Hicks oder die Britin Ethel Smyth, ebenso Tschaikowsky oder eben Schubert und Chopin.
Tim Stolte und seine Mitstreiter*innen erzählen ihre Lebensgeschichten und setzen die Musik dazu in Beziehung. Dadurch wollen sie versuchen, die (damalige) Gefühlswelt der Komponist*innen zu reproduzieren: "Dadurch geben wir, wenn man so will, den Komponist*innen ihre authentische Stimme zurück."
Empathie für Menschen wecken
Gerade machte Tim Stolte mit seinem "Forget Me Not"-Projekt im Haus des Züricher Kammerorchesters Station. Die Reaktionen dort haben ihn ermutigt: "Ich habe von der queeren Community Rückmeldung bekommen, die mit Klassik noch nichts am Hut hatte und gesagt hat: 'Wow, jetzt habe ich auch hier Vorbilder gesehen und jetzt habe ich mehr Lust auf klassische Musik.'" Es habe aber auch Reaktionen aus der nichtqueeren Community gegeben und diese Stimmen sagten: "Mensch, das habe ich alles nicht so gewusst. Ich höre das jetzt tatsächlich auch mit anderen Ohren.“ Tim Stolte macht das glücklich: "Man kann damit ganz viel Empathie wecken."
Der Sänger wünscht sich auch von der deutschen Klassik-Szene, dass mit dem Thema „Queerness“ offener umgegangen wird. Eine Möglichkeit dafür bietet sich am 26. September. Dann gastiert "Forget Me Not" in Stoltes Heimatstadt Hamburg. In der Elbphilharmonie.