"The Myth of Normal": Kluge Ausstellung über das andere Normale
"The Myth of Normal - Vom Können und Gönnen" heißt die neue Gruppen-Ausstellung, die in Hannover gezeigt wird. Das Verhältnis von Körper und Gesellschaft möchten die Macher damit hinterfragen.
Eine Unterschenkelprothese auf einem Plateau. Aus ihr tönt das Leid eines Veteranen, der die Ukraine gegen die russischen Angreifer verteidigte. Ein Teil seines Beines wurde amputiert, mit Cannabis betäubte er seinen Phantomschmerz, am Ende war er tot. "Their words/Ihre Worte 2019 - 2024" heißt die Installation des 1982 in Kiev geborenen Künstlers Nikita Kadan, der die Spuren des Krieges an einem Soldaten eindringlich zeigt.
"Mir geht das mit vielen Arbeiten von Nikita so", erzählt der Direktor des Kunstvereins Hannover, Christoph Platz-Gallus, "die über ihre Materialität, die zu einem sprechen, auch häufig noch tiefgehender den Horror vermitteln, als das vielleicht so eine gewisse Abstumpfung auch von direkten Bildern macht. Mir geht das in jedem Fall so, dass im Grunde die Abwesenheit von Dingen noch viel intensiver sein kann als das Direkte, fast Voyeuristische." "Vom Mythos des Normalen" heißt die Ausstellung übersetzt. Die Gruppenschau zeigt 13 Arbeiten, die zum Teil von Künstlern stammen, deren Normalität sich durch Krankheiten verändert hat.
Wie zeigt sich Ausgrenzung im Gesundheitssystem?
Emilie L. Gossieaux hat mit 16 Jahren ihr Augenlicht verloren. Ihre fröhlich wirkenden Zeichnungen zeigen die US-Amerikanerin mit ihrem Blindenhund fern aller Diskriminierungen, die sie schon erlebt hat. Julischka Stengele aus Wien, selbst übergewichtig, setzt sich mit der Ausgrenzung von Menschen im Gesundheitssystem auseinander, die nicht der Norm entsprechen.
Marcos Lutyens hat einen langen Gang erschaffen, der von riesigen Patchwork-Stoffbahnen begrenzt ist: links in Farbe, rechts in schwarz-weiß. Inspiriert wurde er durch die Wahrnehmung von Schlaganfall-Patienten, sagt der Brite: "Wenn Sie einen Schlaganfall erleiden, sind Sie manchmal auf einer Seite Ihres Körpers gelähmt - auch eine Seite Ihres Geistes funktioniert nicht mehr. Die Idee besteht also darin, die Aufmerksamkeit von der rechten Seite auf die linke Seite zu lenken, weg von der einfarbigen Seite hin zur sehr farbenfrohen Strukturseite. In diesem Sinne wirkt das also wie ein therapeutisches Instrument."
Braille-System wird fühlbar
In einem Ausstellungsraum hängen zehn Stahlbleche, jeweils 90 mal 135 Zentimeter groß - senkrecht dicht nebeneinander. Nicht nur von, auch für Menschen mit Beeinträchtigungen hält die neue Ausstellung im Kunstverein Hannover Vieles bereit. Wer die Kunstwerke nicht sehen kann, wird mit einem Leitsystem auf dem Boden an sie herangeführt. Über digitale QR-Codes können Audiodeskriptionen aufgerufen werden.
An den Wänden lässt sich eine übergroße Braille-Schrift des Kölner Künstlers Peter Schloss ertasten. Menschen ohne Behinderung können es nicht lesen, das macht Ausgrenzung von Sehbehinderten einmal für Sehende erfahrbar, so der Künstler: "Die Idee war wirklich, dass ich das sechspunktige Braille-System stark vergrößert habe. Dadurch kann ich andere Materialien benutzen, was man sonst überhaupt nicht hat. Das heißt, ich habe Punkte aus Schleifpapier, aus Filz, aus hartem, kaltem Metall, sodass ich den Worten oder den Begriffen eine Stimmung geben kann. Normalerweise sind es kleine Punkte, und ich fühle keinen Unterschied. Das Sechs-Punkte-System, das kennt kein kursiv, kein bold, das kennt keine Typografie, keine Serifen-Schrift. Das heißt alles, was man sonst visuell machen kann, mach ich jetzt durch Materialität."
Leichte und spielerische Entdeckungen
Die Ausstellung des Kunstvereins Hannover zeigt klug und facettenreich ein Gegenbild zu den athletisch-gestählten Körpern, die demnächst für den EM-Pokal über den Rasen sprinten werden. Leicht und spielerisch lässt sich hier zudem entdecken, was sonst oft nur als Problem im Verborgenen wahrgenommen wird. Ein wichtiger Beitrag im Kulturprogramm der Fußball-Europameisterschaft.
"The Myth of Normal": Kluge Ausstellung über das andere Normale
Die Ausstellung des Kunstvereins Hannover zeigt facettenreich ein Gegenbild zu den athletisch-gestählten Körpern der Medienindustrie.
- Art:
- Ausstellung
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Kunstverein Hannover
Sophienstraße 2
30159 Hannover