Wikipedia: Wie objektiv ist die Enzyklopädie?
Längst hat die Online-Enzyklopädie Wikipedia die klassischen Nachschlagewerke beerbt. Doch wie objektiv ist das Wissen bei Wikipedia?
"Es ist immer die Frage, was ist eigentlich neutral? In welchen Formulierungen etwa manifestiert sich Neutralität?", fragt Joan Kristin Bleicher, Professorin für Medienwissenschaft an der Universität Hamburg. Wie sich Neutralität in den Inhalten von Wikipedia manifestiere sei wenig transparent. Die Professorin rät deshalb dazu den eigenen kritischen Standpunkt stets beizubehalten, und sich nicht blind auf die Gewichtung und Einschätzung von Wikipedia zu verlassen.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben im interdisziplinären Projekt "Critical Point of View“ schon vor Jahren auf das Problem der Neutralität hingewiesen. "Es wurde vor zehn Jahren schon klar, dass Wikipedia keine neutrale Enzyklopädie ist, sondern ein bestimmtes ideologisches Programm hatte - und auch sozial, nämlich in dem Sinne, dass ganz bestimmte Leute dabei mitmachen, während andere ausgegrenzt werden", sagt Geert Lovink, Medientheoretiker an der Hochschule von Amsterdam.
Wikipedia: Zu weiß, zu männlich, zu westlich?
Lovink will seine Kritik konstruktiv verstanden wissen. Die Idee eines kostenlosen Wissens für alle, eine sogenannte "Wissensallmende" findet er großartig, aber sie sei auf halbem Weg stecken geblieben, sagt er. Dafür machen er und andere Kritiker auch die Strukturen von Wikipedia verantwortlich: Zumeist männliche Autoren aus westlichen Industrieländern, kontrolliert von einem hierarchischen und wenig transparenten System von Administratoren. "Das Problem, was wir heute überall diskutieren, ist, dass es eine feministische Kritik braucht", schildert Lovink. Nur sehr wenige Frauen würden an Wikipedia mitarbeiten. "Sehr viele der Teilnehmer sind autistisch und haben überhaupt keine Weltoffenheit, sondern eine ganz starre Besessenheit auf ihre eigenen Themen." Zu weiß und zu westlich - die Klagen über mangelnde Diversität der Themen werden immer wieder auch von Aktivistinnen und Aktivisten aus ehemals kolonialisierten Ländern vorgebracht.
Wie groß ist Googles Einfluss?
Ein weiterer gewichtiger Kritikpunkt ist der indirekte und direkte Einfluss des Google-Konzerns auf Wikimedia, die Muttergesellschaft von Wikipedia. Sehr oft, wenn man die Suchmaschine benutze, stehe Wikipedia ganz oben. Zudem überweise Google jedes Jahr Geld an die Wikimedia Foundation: "Das ist in den letzten 20 Jahren jedes Jahr immer wieder ein bisschen anders, da kann man keine Pauschalurteile geben, aber sehr transparent ist diese Beziehung nach wie vor nicht", meint Lovink.
Ein komplett nichtkommerzielles Projekt in einer Netzumgebung, das von den großen kapitalistischen Plattformen, zu denen natürlich Google gehört, unbeeinflusst bleibt? Für viele ist diese Vorstellung zu schön, um wahr zu sein. Sie verweisen darauf, dass sich Jimmy Wales, der Gründer von Wikipedia als Anhänger des neoliberalen Vordenkers Friedrich August von Hayek und Ayn Rand, der Propagandistin eines schrankenlosen Egoismus, outete. Einen entsprechenden Einfluss auf die Wikipedia-Inhalte hätten Untersuchungen bislang jedoch nicht nachweisen können, betont Lovink.
20 Jahre Wikipedia: Die Enzyklopädie muss sich weiter verändern
Eine Ausnahme in der Hierarchie von Wikipedia ist sicherlich Johanna Niesyto. Die Expertin für Medienpolitik bei der Friedrich-Ebert-Stiftung war gewähltes Mitglied im deutschen Wikimedia-Präsidium. Auch sie sieht manches kritisch, glaubt aber weiter fest an das Projekt: "Wikipedia ist für mich ein echtes Weltwunder, ein zivilgesellschaftliches, nicht kommerzielles Wissenprojekt inmitten des stark wirtschaftlich dominierten Internets." Damit das auch so bleibe, müsse sich die Online-Enzyklopädie jedoch verändern.