Berlinale-Eklat: Autor Alexander Estis beklagt Einseitigkeit
Alexander Estis nennt die auf der Berlinale geäußerten Vorwürfe gegen Israel einseitig und nicht zielführend. Der Autor vermisst nicht unbedingt eine dezidiert pro-israelische, wohl aber eine differenziertere Position.
Bei derer Abschluss-Gala der Berlinale am Wochenende haben verschiedene Redner Israel einen "Genozid" und "Apartheid" vorgeworfen, ohne den Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober zu erwähnen - und dafür Applaus erhalten. Daran gibt es Kritik. Alexander Estis ist Schriftsteller und Publizist mit jüdisch-russischen Wurzeln. Am Dienstagabend sprach er auf einem Podium im Deutschen Theater Göttingen zu diesem Thema. Zuvor nahm er im Gespräch mit NDR Kultur eine Einschätzung der Diskussion um den Berlinale-Eklat vor.
Herr Estis, welche Gedanken haben Sie bei der aktuellen Debatte um die Berlinale?
Alexander Estis: Ich habe das ähnlich wie Iris Berben erlebt. Es ist auch eine gewisse Müdigkeit, die sich einstellt, weil es immer wieder die gleichen Mechanismen und Debatten sind. Es ist ja nicht so, dass diese Art von Auseinandersetzung und von einseitiger Darstellung erst im Oktober 2023 begonnen hätte, sondern das reicht weit zurück. Diese Vorstellung, man müsse doch Israel endlich einmal kritisieren können und die damit verbundene Unterstellung, man dürfe das im deutschen modernen Raum nicht tun. Man ist also etwas müde, immer wieder über die gleichen Dinge sprechen zu müssen.
Tatsächlich würde ich sagen, es geht noch nicht einmal um eine dezidiert pro- israelische Position, die man da vermisst, wie Iris Berben sagte, sondern um die Behauptung einer einigermaßen differenzierten Position, selbst wenn man sich für das Elend der Palästinenserinnen und Palästinenser stark machen will, was ja ein durchaus berechtigtes Interesse ist .
Sie haben die Müdigkeit gerade angesprochen. Viele sagen, das war Antisemitismus auf der Gala. Der Publizist und Historiker Meron Mendel hat in den ARD Tagesthemen gesagt, das war nicht antisemitisch, sondern es war anti-israelisch. Man könnte sagen, das war sehr einseitig. Diese Müdigkeit wird wahrscheinlich nicht aufhören.
Estis: Ja genau. Ich würde hier auch hauptsächlich von Einseitigkeit sprechen. Ich habe jetzt nicht alle Statements in aller Ausführlichkeit analysiert. Die Forderung nach Waffenruhe nur an Israel zu richten, nach den Geschehnissen im Oktober - das ist einfach perfide und einseitig. Ob das jetzt im Einzelfall mit antisemitischem Gedankengut verbunden ist oder aus einem antisemitischen Beweggrund, das muss man dann sich genauer anschauen, wie das formuliert wurde. Aber es ist zumindest politisch sehr kurzsichtig. Es ist nicht zielführend. Und es ist eben einseitig, in solchen Statements nur Israels in die Verantwortung zu nehmen. Es übersieht das Leid der israelischen Bevölkerung, und es bringt uns nicht weiter, wenn man die Hamas in solchen Diskussionen ausblendet.
Sie sprechen auf einem Podium im Deutschen Theater in Göttingen. Das Gespräch hat den Titel "Nirgends keine Antisemiten", also eine doppelte Verneinung: "nirgends", "keine". Das würde ja heißen, überall Antisemiten. Ist das Ihre Meinung?
Estis: Nun, der Titel ist natürlich mit einem Augenzwinkern formuliert. Das Problem, dass wir in Deutschland, im deutschen Diskurs beobachten: Alle schieben sich den Antisemitismus-Vorwurf wie einen brennenden Scheit zu. Schaut mal die Rechten, die sind die wahren Antisemiten. Die Linken sind per Definition keine Antisemiten. Und genauso: Schaut mal, die Moslems, das sind die Antisemiten und wir sind die größten Judenfreunde, weil wir die Muslime hier nicht haben wollen. Dabei gibt es in diesen Gruppen jeweils hinreichend Antisemiten. In diesem Sinne gibt es überall Antisemiten. Aber das heißt natürlich nicht, dass es überall nur noch Antisemiten gäbe, dass will man auf keinen Fall mit diesem Titel behaupten. Aber dass der Antisemitismus von verschiedenen Wahrheiten herkommt, das will damit auf jeden Fall formuliert sein .
Es wurde nicht zuletzt durch die Berlinale-Gala gesagt, die Kulturszene habe ein Antisemitismusproblem. Wie sehen Sie das? Ist es ein spezielles Problem der Kulturszene?
Estis: Es ist nicht unbedingt ein spezielles Problem, würde ich sagen, sondern das zieht sich durch verschiedene Bereiche durch. Im Kulturbereich ist das aber besonders sichtbar. Es wird auch besonders vehement diskutiert. Natürlich haben wir bei bestimmten, medial sehr präsenten Eklats eine hohe Aufmerksamkeit darauf, was innerhalb des Kulturbetriebs geschieht. Nun ist das natürlich so: Kultur heutzutage ist stark politisiert und fühlt sich in der Pflicht, politische Statements abzugeben. Sie ist oft kaum noch von Aktivismus zu unterscheiden und wird deshalb zu Recht auch politisch besonders scharf beäugt und auch kritisiert.
Sie haben den provokanten Titel der Veranstaltung heute in Göttingen schon angesprochen. Wie kontrovers, wie emotional erwarten Sie das heute?
Estis: Ich denke, dass das Theaterpublikum zu einer ruhigen Auseinandersetzung fähig ist, ohne dass es dabei zu einer größeren Aufregung kommt. Aber man weiß bei diesem Thema natürlich nie, beziehungsweise man kann eigentlich immer davon ausgehen, dass es emotionalisiert. Ich gehe aber davon aus und hoffe, dass wir in Ruhe ins Gespräch kommen und dass wir zu einer differenzierteren Auseinandersetzung gelangen, als es jetzt zum Beispiel bei der Berlinale der Fall ist, wo einfach wohlfeile Slogans in den Raum geworfen werden.
Das Interview führte Philipp Schmid.