Vicky Krieps über "Corsage" und Hannover als Stadt der Sehnsucht
In Marie Kreutzers Film "Corsage" über Kaiserin Elisabeth von Österreich und Ungarn spielt Vicky Krieps die 40-jährige Kaiserin, die viele als Sissi kennen. Der Film läuft am 22. November ab 20.15 Uhr auf ARTE.
Bei den Europäischen Filmpreisen hat Vicky Krieps am 10. Dezember 2022 die Auszeichnung als beste Schauspielerin für ihre Hauptrolle erhalten.
Das Drama zeigt die Kaiserin Elisabeth, die die meisten als Sissi kennen, kurz vor ihrem 40. Geburtstag zu Weihnachten 1877. Vom romantisch verklärten Image einer jungen Kaiserin ist hier nicht die Spur zu erkennen. Es ist das großartige Porträt einer reifen, in Zwängen eingesperrten öffentlichen Person. Im Mai lief der Film mit großem Erfolg bei den Filmfestspielen in Cannes: Die 38-jährige Krieps erhielt verdient einen Schauspielpreis an der Croisette und hat den Film mit produziert.
"Corsage" - Film mit subtilen Anachronismen und überraschendem Ende
Der Film im historischen Ambiente arbeitet mit Anachronismen, so setzt Regisseurin und Drehbuchautorin Marie Kreutzer bewusst moderne Songs ein, etwa einen der Rolling Stones: "Die Musik stand zum Teil schon im Drehbuch, weil ich viel Musik beim Schreiben höre. Wir haben - zum Beispiel beim Lied der Rolling Stones - mit einer anderen Instrumentierung als im Originallied gearbeitet, mit einer, die zu dieser Kaiserzeit passt." Es haben schon früh diese Idee gegeben, moderne Elemente einzubauen - aber auf eine subtile Weise, sagt sie. "Es war immer klar: Ich möchte nicht diesen klassischen, überladenen historischen Filmen machen. Es soll alles schlichter sein."
Der Film hat ein sehr überraschendes Ende. Soviel darf verraten werden: Es entspricht nicht der realen Historie: "Ich werde immer wieder gefragt, 'warum nicht das echte Ende?' Mir ging es darum, dass die Kaiserin ihr Leben selbst in die Hand nimmt, dass sie die Kontrolle übernimmt. Sie entscheidet, wie es mit ihr weitergeht. Das war mir wichtig. Frauen, die von Männern ermordet werden, das sehen wir viel zu oft. Und ich will das nicht erzählen, dass sie nur das Opfer war. Sondern ich will erzählen, dass sie sich selbst ihren Teil genommen hat."
Vicky Krieps: "Das Dekor bröckelt, so wie die Monarchie"
Krieps stammt aus Luxemburg und hat deutsche Wurzeln in Norddeutschland. Sie hat etwa in Filmen wie "A Most Wanted Man" von Anton Corbijn an der Seite von Philip Seymour Hofman und Daniel Brühl in Hamburg gespielt, in "Die Vermessung der Welt" und in "Der junge Karl Marx", bis 2017 ihr internationaler Durchbruch mit "Der Seidene Faden" von Paul Thomas Anderson kam. Darin spielte sie an der Seite von Daniel Day Lewis die Muse eines Modeschöpfers in London. Seither war sie in so unterschiedlichen Produktionen wie "3 Tage in Quiberon", im US-Sci-Fi Thriller "Old" in Daniel Brühls Regiedebüt "Nebenan", dem Film "Bergman Island" an der Seite von Tim Roth und in der Serie "Das Boot" zu sehen. Ein Gespräch über "Corsage", wie sie ihre Sissi angelegt hat, über Hamburg und ihre besondere Verbindung zu Hannover.
Sie sind mit zwei Premieren in Cannes gewesen, mit dem Abschieds-Liebesdrama "Plus que jamais" von Emily Atef und mit Marie Kreutzers historischem Drama "Corsage". Beide Uraufführungen wurden mit Ovationen gefeiert. Bei der "Corsage"-Premiere sind Sie einen Moment lang im Kinosessel versunken, haben sich setzen müssen. Was geht Ihnen in so einem Moment durch den Kopf?
Vicky Krieps: Also, ich habe jetzt Gänsehaut! Das ist Erleichterung, Dankbarkeit, und auch natürlich Überforderung. Das Im-Sitz-Versinken ist eine Mischung aus all dem. Es ist ein endlich Loslassen von dem, was man mit sich herumgetragen hat. Es ist die Dankbarkeit darüber, dass man das machen darf in dieser Welt. Es ist ein Berührtsein davon, dass Menschen tatsächlich verstehen, was ich mit Marie Kreutzer erzählen will.
Aber ich habe das Gefühl, dass ich über alle meine Filme hinweg irgendetwas erzählen möchte. Dass sich oft aus einer Ecke heraus erzähle, die nicht gesehen wird, oder es kam mir als junger Mensch vor, dass ich nicht gesehen oder gehört werde. Oder dass das, wie ich die Welt sehe, etwas ist, wie man es vielleicht nicht im Mainstream sieht.
Jetzt diese Filme zu machen, sie auf eine Leinwand zu bringen und zu merken: Die Menschen hören mich genau in dieser Sprache, in der ich rede, die die Sprache mehr vom Rande des Geschehens ist. Und dann die Überforderung - diese ganzen Menschen, die einen anschauen und beklatschen und nicht aufhören zu klatschen. Dann will man irgendwann im Boden versinken, weil es zu viel ist.
Viele potentielle Kinofilme erscheinen nur noch auf Streamingplattformen. Doch dieser schreit nach Kino! Ihre Kaiserin Elisabeth will das Leben spüren. Sie befiehlt ihren Zofen, ihr Korsett noch fester zu schnüren. Wie sind Sie in diese Rolle hineingeschlüpft, für die man theoretisch Jahre lang recherchieren könnte - von dem Tattoo auf der Schulter, das historisch verbrieft ist, von der Leidenschaft für sportliche Aktivitäten, von den komplexen Beziehungen zum Kaiser, zu den Kindern, den Zofen, zum Volk?
Krieps: Marie Kreutzer und ich haben uns beide davon befreit, ein Biopic machen zu müssen. Marie hat aus der Not eine Tugend gemacht, denn mit dem Geld, was wir in Europa haben, um Filme zu machen, kann man nicht so ein perfektes Biopic hinlegen. Aber genau das kann das Zentrum des Films sein, dass man sagt, es geht nicht um die Kür, sondern um das Geschehen. Und so zeigt Marie die Räume in ihrer Perfektion teilweise nur in bestimmten Orten. Das Dekor bröckelt, so wie die Monarchie. Die Kostüme sind nicht alle perfekt, und so fällt schon die Modernität ein.
Bei mir und meinem Spiel war es auch ähnlich, dass ich versucht habe, von innen heraus an sie heranzugehen und sie über die Gefühle zu verstehen. Sie ist ein Mensch, der wird immer anders beschrieben wird - je nachdem, aus welcher Epoche über sie geschrieben wird. Beim Film geht es darum, den Zuschauer auf eine Reise zu mitzunehmen, wo hoffentlich etwas passiert, etwas Neues oder etwas anderes oder etwas Komisches, das Fragen hinterlässt und Gefühle aufwirft. Das ist viel mehr mein Ziel, als dass ich jetzt zeige, wie toll und perfekt ich jemanden nachstellen kann, oder wie ich ihn verstanden habe.
Es gibt repräsentativ eine Szene, in der sie als Kaiserin porträtiert werden. Dabei rauchen Sie zwischendurch, der Kaiser kommt kurz vorbei. Wie Sie danach den Porträtmaler anschauen, als Reaktion darauf, dass Sie nicht rauchen dürfen, dass der Kaiser die Namen Ihrer Zofen verwechselt. Dass Sie fürs Gemälde mal wieder wie im Korsett auf einem Gemälde festgehalten werden, eingesperrt, um begafft, bestaunt zu werden. Da läuft es einem den Rücken herunter. All das ist in Ihrem Gesicht ohne Dialog zu erkennen!
Krieps: Das ist dieses Erstaunliche, was ich vorhin meinte, dass das gesehen wird! Als ich angefangen habe zu arbeiten, wurde mir oft vorgehalten, "Vicky, das muss größer sein oder mehr Spannung haben". Das hat mich nicht interessiert, weil ich nicht so ein Mensch bin. Ich habe das alles mehr innerlich gehalten. Jetzt mache ich diese Filme, und die Menschen sehen das. Das ist so toll für mich, zu merken, wie schön es ist, dass ich daran festgehalten habe.
Diese Szene ist ein sehr gutes Beispiel. Da habe ich alles gefühlt. Die ganze Sissi habe ich in diesem Moment gefühlt. Sachen, die kein Mensch wissen kann. Zum Beispiel sagt der Kaiser etwas über die Zofe, diese sei fülliger als eine andere. Was ich in diesem im Moment fühle, ist, dass ich
weiß, dass der Kaiser mit denen ihnen geschlafen hat. Im Film wird es nicht benannt, aber ich fühle es. Und nachher gehe ich aus dem Film raus und ohne dass die Leute genau alles verstanden haben, haben sie genau alles so gefühlt, wie ich das gefühlt habe. Deswegen mache ich Filme.
Diese Rolle ist sehr physisch in vielerlei Hinsicht, mit Schwimmen, Fechten im Damensattel reiten, Ungarisch sprechen. Sie klettern privat gern. Sind das alles Dinge im Drehbuch, die Sie lesen und wo sie sagen, "das will ich alles machen"?
Krieps: Da habe ich mich ein bisschen übernommen. Ich bin tatsächlich jemand, die, wenn sie das liest denkt, "ach ja, wie toll, das kann ich noch lernen. Ich wollte schon immer im Damensitz reiten." Und als es soweit war, habe ich ganz schön gekeucht. Das war sehr viel, zum Beispiel mit einmal täglich Eisschwimmen. Das war dann im Film aber nicht mehr drin.
Das ist aber das andere Thema in meinem Leben, dass alle diese Filme sich irgendwie in meinem Leben einreihen - sie also immer dann passieren, wenn sie passieren sollen. Dass ich für Sissi Eisschwimmen gelernt habe mit einem extra Trainer zum Beispiel. Die Szene ist nicht im Film drin, denn das Wasser war am Ende gar nicht so kalt, wie wir dachten.
Aber ich habe trotzdem Eisschwimmen trainiert: in der zugefrorenen Donau. Ich benutze das dann aber für "Plus que jamais", den Film von Emily Atef, den wir wegen dem Lockdown im selben Moment drehen mussten. Ich musste beide Filme gleichzeitig drehen. Ich komme also in Norwegen an und bekomme gesagt. "Du musst da für eine Minute ins eiskalte Fjordwasser, ohne dich zu bewegen und ohne zu zittern." Das kann man gar nicht, wenn man das nicht übt! Darüber hatte aber niemand
nachgedacht. Es ist verrückt. Das ist irgendwie so eine unsichtbare Hand, die mich führt.
Sie haben in Hamburg gedreht, mit Philip Seymour Hoffman: "A Most Wanted Man" von Anton Corbijn. Welche Erinnerungen haben Sie an den Dreh?
Krieps: Ich habe viele Erinnerungen. Ich erinnere ich mich an den Goldenen Pudel, den Club, der irgendwann abgebrannt ist. Dass ich da reingegangen bin, dann kam ich raus, und es war hell. Das hatte ich noch nie gemacht, weil ich, ehrlich gesagt, nie so viel ausgegangen bin als junges Mädchen und weil ich sehr früh Kinder bekommen habe.
Ich komme aus dem Club und denke, "wieso ist es jetzt schon hell?" Danach auf dem Filmset mit Daniel Brühl habe ich gedacht, "du stehst am Filmset mit Philip Seymour Hoffman, und du hast die ganze Nacht nicht geschlafen!" Ich habe es allen erzählt und die haben sehr gelacht. Daran erinnere ich mich gut. Und Paul Thomas Anderson (Regisseur von "Der Seidene Faden", Anm. d. Red.) hat "A Most Wanted Man" wegen des später verstorbenen Schauspielers Hofman geguckt. Er muss mich da bewusst wahrgenommen haben. Wir haben später mal beide geschmunzelt und gesagt: "Philip hat mich geschickt. Der hat das von da oben gemacht. Der wollte, dass ich mit dir arbeite."
Sie haben mütterlicherseits Verbindung nach Hannover, wie sieht die heute noch aus?
Krieps: Ja, durch meine Tante. Sie ist letztes Jahr leider gestorben, während des Sissi-Drehs. Das ist sehr traurig, sie wollte den Film unbedingt sehen. Aber mein Onkel lebt noch dort. Dadurch habe ich noch Verbindungen - und durch meine Mutter. Es ist immer ein Sehnsuchtsort. Da hat meine Oma gelebt, die ich sehr geliebt habe und die immer so weit weg war. Ich musste immer den ICE nehmen und dahin zu fahren. Es war die erste Großstadt, die ich kannte. Ich weiß noch, wie ich als Kind in Hannover aus dem ICE steige und staunte: "Das ist die größte Stadt der Welt!" Das war für mich wie New York.
Das Gespräch führte Patricia Batlle, NDR Kultur