Premiere in Hamburg: Eine Flucht schmerzhaft nachgewandert
Christiane Hoffmann ist die Fluchtroute ihres Vaters zwischen Schlesien und Sudetenland nachgewandert und hat darüber ein Buch geschrieben. Das Thalia in der Gaußstraße macht es schmerzhaft erfahrbar.
Es beginnt mit einem Spiel. "Könnten bitte alle mal aufstehen, die selbst Flucht- oder Vertreibungserfahrung haben?", fragt Anna Maria Köllner ins Publikum. Einige stehen auf. Aber die Schauspielerin macht weiter: "Jetzt bitte einmal alle aufstehen, bei deren Eltern das der Fall war." Jetzt steht fast der ganze Saal. Es ist ein eindrücklicher Anfang.
"2019 im Sommer nach dem Tod ihres Vater fährt Christiane Hoffmann, die Autorin unsres Buchs, fährt nach Rosenthal, das jetzt Różyna heißt", trägt eine Schauspielerin auf der Bühne vor. „Alles, was wir nicht erinnern“ ist der Titel des Buchs von Christiane Hoffmann. Darin beschreibt sie, wie sie die Fluchtroute ihres Vaters nachgewandert ist, 550 Kilometer zwischen Schlesien und Sudetenland – es ist auch eine Reise zwischen den Zeiten.
Langsam beginnt der Abend unter die Haut zu gehen
"Rosenthal war immer Heimat, aber: Was ist Heimat?", sagt Oda Thormeyer. Sie steht da, fast privat, im gestreiften Ringel-Sweater, stellt Fragen im Plauderton – eine Einladung zum Gespräch. Der Theaterabend wirkt am Anfang wie eine lockere Versuchsanordnung – ganz langsam aber fängt der Abend an, unter die Haut zu gehen.
Regisseur Gernot Grünewald und sein Team holen das Thema Flucht und Vertreibung behutsam auf die Bühne, in einer Mischung aus realistischen Spielszenen und Erzählsituationen, etwa wenn es heißt: "Als die ersten Panzer durchs Dorf rollen, hat die Wehrmacht das Dorf fast vollständig geräumt."
Sprachlosigkeit zwischen Polen und Deutschen
Christiane Hoffmann ist schon als Kind und jüngere Erwachsene mit ihrer Familie zurück nach Rosenthal gefahren, auf Besuch – diese Treffen werden hier nachgespielt – als stumme Tableaus. Sprachlosigkeit zwischen Polen und Deutschen, zwischen den neuen und den alten Hausbewohnern.
Da wird die Suppe aus der alten Terrine gelöffelt, die schon die deutsche Oma benutzt hatte. Es sind schmerzhaft-konkrete Momente. Christiane Hoffmann, die meistens von Oda Thormeyer dargestellt wird, macht sich also auf den Weg, ihr neunjähriger Vater geht neben ihr, fast 80 Jahre liegen zwischen ihnen. Was für ein Bild, das so nur im Theater geht: Die beiden gehen auf Laufbändern, auf der Stelle.
Auf einer gebogenen Videoleinwand im Hintergrund erscheinen Winterlandschaften, Gebäude, ein Weg, eine Straße, struppige Obstbäume. Das Regieteam ist vor Ort gewesen, in Różyna, hat dort gedreht und mit Zeitzeugen gesprochen. Mitten auf der Bühne steht ein drehbares Podest. So entsteht ein ständiges Kreisen, als wäre das Publikum mit auf dem Weg hinaus aus dem Vergessen.
Polnische Perspektive war Hoffmann wichtig
Die "echte" Autorin Christiane Hoffmann, die auch stellvertretende Regierungssprecherin ist, ist nach der Premiere begeistert: "Was ich ganz toll fand ist, dass sie mein Anliegen, nämlich die polnische Perspektive mit reinzubringen, auch sehr stark gemacht haben in dem Theaterstück."
"Können wir Frieden halten nur aus Angst, oder können wir auch Frieden halten aus Erkenntnis? Wir sind doch alle, im Großen und Kleinen, sind wir voneinander abhängig", trägt Oda Thormeyer vor. Es wirkt so, als wäre diese 550 Kilometer lange Reise noch lange nicht am Ziel.
Hoffnung auf ein Gastspiel in Polen
"Und ich hoffe sehr, dass es als Gastspiel oder auch mal als Inszenierung vielleicht nach Polen kommt, ein großer Traum", sagt Christiane Hoffmann nach der Vorstellung.