Wie inszeniert Hamburgs baldiger Ballettchef Demis Volpi?
Ab Sommer 2024 wird Demis Volpi die Nachfolge von John Neumeier beim Hamburg Ballett antreten. Noch ist er jedoch an der Oper am Rhein in Düsseldorf. NDR Ballettexpertin Annette Matz hat sich dort die Premiere von "Giselle" angeschaut.
Wie war die Premiere von "Giselle"?
Annette Matz: Anders - in fast jeder Beziehung. "Giselle" gehört bis heute zu den erfolgreichsten Balletten überhaupt. 1841 wurde es uraufgeführt. Ballettkomponist Adolphe Adam hat damals sowas wie ein One Hit Wonder komponiert - wunderschöne Musik, toll umgesetzt auch an diesem Abend von den Düsseldorfer Symphonikern. Aber Demis Volpi hat die eigentliche Geschichte um das Bauernmädchen Giselle, das sich in einen Adligen verliebt, der aber schon vergeben ist und die dann an gebrochenem Herzen stirbt, umgedeutet. Bei ihm verliebt sich Giselle in Bathilde. Die schaut sich mit ihrem Mann eine Ballettaufführung an. Wir sehen auf der Bühne die Kulissen und die Kulissenschieber - und dann kommt Bathilde ganz real aus dem Zuschauerraum auf die Bühne. Sie lernt Giselle kennen, küssen und eine queere Party feiern. Ein berührend-intensives Erlebnis, was Bathilde nicht vergessen, aber auch nicht leben kann.
Eine andere Geschichte - und es ist trotzdem "Giselle". Was hat das noch zu tun mit diesem Ballett?
Matz: Das Tolle an dieser neuen Draufsicht auf dieses Stück: Demis Volpi hat die Geschlechterrollen neu gedacht und sich trotzdem vor dem klassischen Ballett verneigt. Es bleiben alle Rollen, es verändert sich einfach das Miteinander. Es gibt den berühmten weißen Akt. Im Original ist das der weiße Akt der Willis, also der verschmähten toten Frauen, die sich an den Männern rächen, in dem sie diese bis zur Erschöpfung tanzen lassen. Bei Volpi ist das der phantastische, feenhafte Erinnerungsort an die Begegnung der beiden Frauen. Und die Willis sind Tänzerinnen und Tänzer - alle gleich in langen weißen Tüllröcken. Es ist einfach so, dass die Geschlechter irgendwann keine Rolle mehr spielen beim Zuschauen. Das muss man erstmal schaffen.
Wie hat das Publikum auf diese queere Inszenierung reagiert?
Matz: Viele Buhs gemischt mit Bravos. Am Schluss waren die Buhs dann verstummt und alle Leute standen. Ich habe ja sozusagen in fremden Gewässern gefischt und habe natürlich auch andere Leute getroffen als hier in Hamburg. Ich bin aus dem Zuschauerraum neben Bettina Böttinger rausgegangen - aus der Talkrunde "Kölner Treff". Sie ist ein totaler Volpi-Fan. Sie gönnt es Hamburg, aber sie ist sehr traurig, dass er geht.
Was sagst du denn? Wie hat es dir gefallen, was erwartet Hamburg?
Matz: Ich fand es überraschend, ich fand es mutig. Ich habe mich in keine Sekunde gelangweilt. Demis Volpi hat Respekt vor dem klassischen Stoff. Auch wenn es sich so banal anhört. Männer in Röcken, das kennen wir schon. Frauen, die sich verlieben, das ist auch nichts Neues. Aber diesen klassischen Stoff, der fast was Unantastbares hat, so mitzunehmen in unsere moderne Welt und so behutsam und elegant umzudeuten, das hat mir gut gefallen. Der Choreograf Demis Volpi gilt als Geschichtenerzähler, das ist seine Stärke, die auch rüberkommt. Der Fokus liegt nicht auf spektakulären, technisch unglaublich perfekt choreografierten, filigranen Tanzsequenzen. Ich hab das gar nicht so vermisst, aber im Publikum hab ich das öfter gehört - da wurde mehr Ballett-Choreografie gewünscht. Also: Hamburg muss sich bestimmt umgewöhnen, aber ich freue mich drauf.