Sommerfestival Kampnagel: Deutschlandpremiere mit Nesterval
Das Sommerfestival Kampnagel lädt am Donnerstagabend in den Kakaospeicher in der Hafencity. Dort zeigen die Performance-Künstler von Nesterval aus Wien "Die Namenlosen - Verfolgt in Hamburg" - eine Deutschlandpremiere.
Wem klassisches Theater mit Plüschsessel und rotem Vorhang zu langweilig ist, der oder die findet beim Internationalen Sommerfestival Kampnagel garantiert etwas. Zum Beispiel Nesterval- eine Wiener Performancegruppe, die von Regisseur Martin Finnland gegründet wurde. Peter Helling hat die Popstars des Gegenwartstheaters bei ihren Proben am Baakenhöft besucht.
Nesterval im ehemaligen Kakaospeicher in der Hafencity
Auf 2.000 Quadratmeter leerer Fläche können sich die Wiener Performancekünstler austoben. Der ehemalige Kakaospeicher in der Hafencity ist eine gigantische Kiste aus Stahl. Aber jetzt sieht sie anders aus: Denn hier sind 25 Räume entstanden, alle getrennt durch schwarze Stoffbahnen. Regisseur Martin Finnland führt durch die Gänge:
"Wir sind gerade im Labyrinth unserer fiktiven Porzellanmanufaktur Nesterval, und wenn man einfach mal hinter die Türen hineinschaut, sieht man die versteckten Ecken - hier gerade eine Arbeiterwohnung", erzählt Martin Finnland und schiebt einen Vorhang zur Seite, dahinter: originale Möbel aus den 30er-Jahren, schwere Holzstühle im Gelsenkirchener Barock, alte Zeitungen, Aschenbecher. Bis zur Streichholzschachtel ist hier alles 80 Jahre alt. Es sieht aber so aus, als wären die Bewohner gerade ausgegangen.
Publikum geht in Gruppen von Szene zu Szene
Nur ein paar Schritte weiter, Vorhang auf: eine nachgebaute Szene am Fischmarkt mit einem Rettungsring und zwei Bänken. "Wir haben sehr viel recherchiert, wo in Hamburg die Orte waren, wo die Leute zum Reden zusammengekommen sind. Das ist zum Beispiel der Fischmarkt", so Finnland. Orte, an denen sich Homosexuelle heimlich trafen. Es geht um ihre Verfolgung in der Nazizeit. Und in jedem Raum werden am Abend Szenen gespielt, 160 insgesamt wurden von der Theatergruppe in Wien geprobt und jetzt auf Hamburg angepasst. Das Publikum wird in sieben Gruppen aufgeteilt - man geht von Szene zu Szene, erlebt die Geschichten eines namenlosen Verfolgten hautnah mit, setzt sie wie ein Puzzle zusammen.
Geschichte der Transfrau Liddy Bacroff
"Namenlos deshalb, weil die meisten zwar heute wissen, dass homosexuelle Menschen verfolgt worden sind, aber die wenigsten haben eine konkrete Geschichte dazu im Kopf", so Finnland. Das wollten er und sein Team ändern. Hier bekommen die namenlosen Homosexuellen und Transmenschen ihren Namen zurück, dafür hat die Gruppe zwei Jahre recherchiert. "Zum Beispiel war Liddy Bacroff, eine Hamburgerin, - heute würden wir sie als Transfrau lesen, damals als Transvestit - ins Gefängnis gekommen, verfolgt und ist dann tatsächlich im Konzentrationslager ermordet worden", berichtet Martin Finnland.
Nesterval verknüpfen Geschichten mit realen Orten
In einem engen Raum, vollgestellt mit Schreibtischen und alten Schreibmaschinen, ist ein Büro des Gestapo-Hauptquartiers in Hamburg entstanden - im Stadthaus. Traurige Berühmtheit erlangten der "Seufzergang", die Foltermethoden der Nazis. "Das finde ich immer das Schöne, dass wir versuchen, diese realen Orte mit einzubeziehen, und das Publikum bemerkt das natürlich und weiß, wenn wir dann vom 'Seufzergang' sprechen, die haben dann noch genau die Bilder dazu im Kopf", so Finnland. Die Beklemmung wächst, während man durch die Gänge geht, die Gitter einer Arrestzelle, einen Berg Kleider sieht. Von irgendwoher dringen Stimmen - und diese hypnotische Swingmusik, die einen sofort in die 20er-, 30er -Jahre katapultiert.
Die Musik kommt aus der Kantine der frei erfunden Porzellanfabrik Nesterval. Martin Finnland beschreibt den Zweck diese Ortes so: "Am Abend der heimliche Treffpunkt und der Herzpunkt der Geschichte, ein sicherer Ort, ein 'Hafen im Hafen', wo Menschen zusammenkommen, um für ein paar Stunden glücklich zu sein." Tische, eine kleine Bühne - dazwischen ausgelassen tanzende Paare, wie aus dem Nichts. Männer mit Männern, Frauen mit Frauen.
Nesterval wollen Sehgewohnheiten verändern
Die Stücke von Nesterval sind in Wien nach wenigen Minuten ausverkauft. Sie wollen Sehgewohnheiten verändern, wollen alle Sinne erreichen. Und haben eine hochpolitische Botschaft: "Wir sehen einfach, wie eine wahnsinnig reaktionäre Welle auf uns zurollt und ich glaube, genau deswegen ist es jetzt der richtige Zeitpunkt, aufzustehen dagegen und den Anfängen zu wehren", findet Martin Finnland.
Karten für die Gruppe Nersterval sind nur noch über eine Warteliste zu bekommen. Ansonsten aber bietet das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel drei Wochen pralles Theater, Performance und Konzerte, mit über 150 Veranstaltungen.