"Wohnen": Doris Dörries spielerischer Essay über Lebensräume
Die Filmemacherin und Autorin aus Hannover befasst sich in einem Essay mit dem Wohnen. Wie schläft es sich auf einem Tatami - und warum schreibt Dörrie gern am Küchentisch? Private Einblicke und ironische Erkenntnisse.
Doris Dörries Betrachtungen zum Wohnen beginnen mit Erinnerungen an eine fast traumhaft schöne Kindheit in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover.
Ich träumte oft von der Wohnung, in der ich aufwuchs, barfuß laufe ich über den grünen Plastikboden im Flur, spüre die kleinen Riffel unter den Füßen, laufe über den Teppich ins Wohnzimmer, wo meine Eltern unter einer Stehlampe sitzen und lesen. Auszug aus dem Essay "Wohnen" von Doris Dörrie
Dörries Vater war Kinderarzt, die Mutter machte seine Buchhaltung und versorgte Doris und ihre drei Schwestern. Ihr Zuhause hat die Autorin geprägt bis heute, auch was die Rolle der Frau angeht.
Meine Mutter war immer zuhause. Sie behütete uns und die Wohnung. Niemals wäre ihr in den Sinn gekommen, allein ins Kino zu gehen oder in eine Kneipe. Das wäre erklärungsbedürftig gewesen. Warum sollte sie das Haus verlassen ganz allein und ohne uns ? Und wer wäre sie da draußen gewesen? Auszug aus dem Essay "Wohnen" von Doris Dörrie
Dieses Draußen und Drinnen zieht sich wie ein roter Faden durch Doris Dörries Erforschung ihres Wohnverhaltens: Etwa die einsame kalte Kammer unterm Dach, wo sie als Studentin Angst vor der verrückten alten Vermieterin hatte, oder, noch fürchterlicher, die Obdachlosenunterkunft in New York, weil sie wochenlang kein Zimmer fand.
Die Küche als Dörries "natürliches" Habitat
Später dann WGs, in denen auf dem Boden geschlafen wurde, weil man nicht spießig sein wollte. Oder sie reiste mit Mann und Kind nach Los Angeles. Später wurde Japan wie ein zweites Zuhause für Doris Dörrie, wo man auf Tatamis schläft hinter Wänden aus Reispapier. Dabei ist - überraschenderweise - die Küche für die Autorin ein großes Thema in diesem Buch, auch ein politisches.
Am liebsten schrieb ich am Küchentisch, während ich kochte. Ein seltsamer Widerspruch: Ich wollte auf keinen Fall das Bild der Frau am Herd abgeben, gleichzeitig war die Küche mein über Jahrtausende zugewiesenes "natürliches" Habitat, wo ich ganz automatisch nützlich war. Also konnte ich dort leichter etwas Unnützes ausführen, nämlich schreiben. Auszug aus dem Essay "Wohnen" von Doris Dörrie
Feine Ironie hinter sanft-feministischer Polemik
Man erkennt natürlich hinter der sanft-feministischen Polemik die feine Ironie, mit der die Autorin an diesen Essay herangegangen sein muss. Ohne in philosophische Tiefe vorzudringen, nähert sie sich der Verlagsvorgabe - "zehn Bücher über die zehn wichtigsten Themen des Lebens" - wie auch wir es als geübte und kritische Zeitungsleser tun würden:
Wohnst du noch oder lebst du schon, fragt das Möbelhaus IKEA. Sind Wohnen und Leben denn ein Widerspruch? Entsteht nicht das Wohnen aus dem Leben? Bestimmt das Leben nicht das Wohnen? Was heißt denn überhaupt Wohnen im Unterschied zu Leben? Auszug aus dem Essay "Wohnen" von Doris Dörrie
"Wohntyp"-Test liefert Stichworte
Spielerisch lässt sich Doris Dörrie durchs Thema treiben und füllt einen Fragebogen aus, um herauszufinden, welcher "Wohntyp" sie denn wohl wäre. Dieser Test liefert ihr Stichworte, die sich durch den ganzen Essay ziehen: "Schlafzimmer" führt sie zur Frau als Verführerin ins Boudoir der Oper "Così fan tutte". Die dänischen Designer-Stühle in der Küche ihrer Eltern zu dem berühmten Foto der nackten Christine Keeler, rittlings auf dem Arne-Jacobsen-Stuhl, das nach dem Profumo-Skandal um die Welt ging.
Essay lustig und manchmal etwas beliebig
An anderer Stelle triggert sie das Wort Smart-Home und sie ahnt den Spion im Kühlschrank, der irgendeinen Algorithmus füttert, wenn sie "heimlich nachts über Salami oder Mousse au Chocolat herfällt". Das ist mal lustig und mal auch etwas beliebig, und schon gar nicht die große Polemik rund um den Wohnungsmangel in Deutschland.
Aber das Bild der jungen Doris Dörrie, die am Tisch mit ihren Eltern und drei Schwestern sitzt, ein festes Ritual, oder die in die Lektüre versunkene Leserin, umgeben von Märchenmotiven auf der Tapete ihres Kinderzimmers, erfüllen uns mit Wärme und der Frage: "Wie habe ich eigentlich angefangen zu wohnen?
Noch bis zum 25. April liest Doris Dörrie immer ab 8:30 Uhr in der Reihe "Am Morgen vorgelesen" auf NDR Kultur aus ihrem Essay "Wohnen".
Wohnen
- Seitenzahl:
- 128 Seiten
- Genre:
- Essay
- Verlag:
- Hanser Berlin
- Veröffentlichungsdatum:
- 15.04.2025
- Bestellnummer:
- 978-3-446-28399-2
- Preis:
- 20,00 €
