"Weiße Flecken": Auf den Spuren des deutschen Kolonialismus
In "Weiße Flecken" schickt Lene Albrecht eine junge Frau zu Forschungszwecken nach Togo. Auf den Spuren von Krieg und Migration begegnet sie unwahrscheinlichen Biografien und stößt auf Rätsel in ihrer eigenen Familiengeschichte.
Schon der erste Satz in "Weiße Flecken" beschwört die ganze rätselhafte Größe des neuen Romans von Lene Albrecht herauf:
Nur einige wenige Tage nach meiner Ankunft in Sokodé machte mich der Bibliothekar auf die Existenz eines Mannes namens Le Blanc aufmerksam, den ich bis zu meiner überstürzten Abreise im kältesten Monat überhaupt, während des sogenannten afrikanischen Winters, nie wirklich zu Gesicht bekommen sollte. Leseprobe
Es geht im Buch um individuelle Formen Schwarz- und Weißseins, es geht um Bewegungen zwischen dem afrikanischen und europäischen Kontinent und die Frage, wie man Bruchstücke der Geschichte behandelt, die nicht mehr nachvollziehbar sind.
Auf Spurensuche in Afrika
Ellen fliegt nach Togo. Sie forscht zu Fluchtursachen und deren Verbindung mit den Rückständen deutscher Kolonialherrschaft. In einer Bluse, die ihre Vorgängerin im Zimmer vergessen hat, schreitet sie Spuren ab: Sie besucht einen Friedhof für Europäer, eine Funkstation. Egal, wo sie hingeht, trifft sie auf Menschen, die sich ihr direkt offenbaren. Mit dem Germanistikstudenten Kofi kann sie Deutsch sprechen, genauso wie mit der Schneiderin Amina. Sie war nach Deutschland geflohen. Aus Angst vor der brutalen Abschiebung ist sie aber freiwillig zurückgekehrt nach Togo. Amina macht Ellen klar, dass sie die afrikanische Identität, wie die Europäer sie sich ausmalen, für eine Illusion hält:
Was ist schon afrikanisch? Unsere Geschichte ist wie die Stoffe. Seit Jahrhunderten fest verwoben mit anderen, so dass man nicht mehr unterscheiden kann, wo der eine Faden aufhört und der andere anfängt. Um das herauszufinden, müsste man alles auseinanderreißen. Leseprobe
Lene Albrecht reißt in "Weiße Flecken" die Stoffe auseinander. Der Roman ist bewusst gegen ein lineares Erzählen ausgerichtet, ein Recherchetext, hingebungsvolle Arbeit am Fragment. Nicht nur der wenig erzählten Verbindung deutsch-afrikanischer Identitäten spürt Lene Albrecht nach, sondern auch der eigenen Familiengeschichte. Denn da gibt es die Urgroßmutter Benedetta, von der verschwommene Fotos existieren und über die Verwandtschaft verstreute Erinnerungsfetzen. Als einziges Kind von drei Geschwistern war sie um 1900 mit dem Vater per Schiff aus Panama nach Hamburg gekommen.
Lene Albrecht zeigt, wie fragil Geschichte ist
Eingeflochten in den großen neu gewebten Stoff afrikanisch-deutscher Geschichte sind mehrdeutig gelagerte Schnipsel aus Literatur, Kunst und Zeitgeschehen, wie der Fall um US-Professorin Rachel Dolezal, die sich als afroamerikanisch identifizierte, obwohl sie weiße Eltern hatte. Solche Details fügt Lene Albrecht, sorgsam angeblickt, dem Reigen der Spekulationen über die Urgroßmutter hinzu. Denn, auch das macht der Text deutlich: Vieles ist erdacht und nicht erinnert. "Alles ist eine Frage der Sprache", dachte einst Ingeborg Bachmann. Selten hat jemand die Gabe, eine Sprache zu entwickeln, die mit so viel Wissen und so viel Empathie gesättigt ist. Jeder Satz von Lene Albrecht steht schillernd präzise vor Augen.
Das Wort fällt wie ein Lichtschwert auf ihre kleinen Schultern nieder. Leseprobe
Mit "Weiße Flecken" zeigt Lene Albrecht, wie fragil Geschichte ist, dass wir aber ums Erzählen nicht herumkommen.
Weiße Flecken
- Seitenzahl:
- 256 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- S. Fischer
- Bestellnummer:
- 978-3-10-397538-3
- Preis:
- 24 €