"Was du kriegen kannst": Ein Leben zwischen Sexarbeit und Spionage
Wer ist der IM "Anna"? In seinem Debütroman führt Clemens Böckmann die Leserinnen und Leser in die DDR der 1970er-Jahre. "Was du kriegen kannst" hinterfragt mutig und klug die Erzählbarkeit von Biografien.
Geht man nach den Aktenangaben des Ministeriums für Staatssicherheit, wurde Uta Krahl mal 1946 oder 1948 geboren. Der Mann, dem sie seit 2017 ihre Lebensgeschichte erzählt, geht wiederum von 1945 aus. Fest steht, dass Uta in der Nähe von Zwickau aufgewachsen ist, jung Mutter geworden ist und eine steile Karriere in der Möbelbranche gemacht hat. Fest steht auch, dass Uta sich regelkonform verhält und zuverlässig arbeitet, was die Stasi zu Beginn der 1970er-Jahre dazu bewegt, aus Uta den IM "Anna" zu machen.
Von der Stasi auf Männer angesetzt
Clemens Böckmanns Debütroman funktioniert wie ein literarischer Dreiklang aus direkter Rede, Erzählung und protokollarischen Berichten. Letztere stammen auch von Uta selbst, die sie als IM verfasst hat. Von der Stasi war sie als Prostituierte mit der Bespitzelung von Männern aus dem Westen beauftragt.
Am 11.3.74 lernte ich anlässlich der Leipziger Frühjahrsmesse gegen 18.00 Uhr im Hotel Am Ring in Leipzig den amerikanischen Staatsbürger -schwarzer Balken- kennen. Während des Gesprächs stellte er mir Fragen zu russischen Militärobjekten. Im weiteren Verlauf der 1. Zusammenkunft mit -schwarzer Balken- am 11. oder 12.3. ergab sich seinerseits mir gegenüber die Frage, ob er mit mir weiter zusammen sein könnte. Leseprobe
Der Roman blättert auch in Utas eigener Stasi-Akte:
Anett hat mir im Grunde alles beigebracht. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, dass die STASI sie auf mich angesetzt hat. Viel später, das war wahrscheinlich schon in den Neunzigern, saß ich hier unten im Hotel an der Bar, und da ging eine ältere Frau an mir vorbei, und ich dachte: Mein Gott, was will denn diese alte Hure hier? Erst beim zweiten Mal hinschauen habe ich sie erkannt, aber angesprochen habe ich sie nicht. Ich wollte nicht, dass die ganze alte Zeit wiederkommt. Leseprobe
Tragische Gespenstergeschichte ohne Auflösung
Clemens Böckmanns Romantitel "Was du kriegen kannst" funktioniert auf mehreren Ebenen. Zum einen ist es die Aufforderung der Stasi- Beamten an Uta, ihre Wessi-Freier materiell bestmöglich auszunehmen, indem sie ihre Opfer mit ihrer Attraktivität lockt. "Was du kriegen kannst" meint aber auch die prekäre Informationslage. Neben den Akten sorgen auch Utas durch jahrelangen Alkoholkonsum vernebelte Erinnerungen für Verwirrung. Auch der Erzähler gibt irgendwann zu, keine Hoheit über die Wahrheit zu besitzen.
Genau das macht Clemens Böckmanns Roman zu einer herausfordernden Lektüre. Der Autor überzeugt mit der großen Fähigkeit zur atmosphärischen Verdichtung. Er macht die DDR für die Leserinnen und Leser erlebbar. Doch Uta bleibt eine Fremde. Der Roman hinterfragt mutig und klug die Erzählbarkeit von Biografien. Das "Was du kriegen kannst" - so hallt es im Romantitel wider - ist letztendlich das Maximum an möglicher Gewissheit.
Der Roman ist eine faszinierende Konsequenz aus all diesen Erkenntnissen. Es ist eine tragische Gespenstergeschichte, die den Spuk am Ende nicht auflösen kann.
Was du kriegen kannst
- Seitenzahl:
- 416 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Hanser
- Bestellnummer:
- 978-3-446-28121-9
- Preis:
- 24 €