Uwe Tellkamps "Der Schlaf in den Uhren": Verirrt im Labyrinth
Nach zehn Jahren Wartezeit legt Uwe Tellkamp die Fortsetzung seines "Turm"-Projekts vor, die als unübersichtliche Mediensatire und Gesellschafts-Dystopie daherkommt. Die Lektüre ist oft qualvoll.
So viel vorab: Anstrengend, oft qualvoll ist die Lektüre des neuen Tellkamp-Romans. Es ist, als wolle der Autor seiner Leserschaft von vornherein klar machen: Euch soll es beim Lesen um keinen Deut besser ergehen als mir beim Schreiben. Die Fortschreibung seines "Turm"-Projekts mit den Familien Hoffmann und Rohde wird durchmischt mit einer unübersichtlichen Mediensatire und einer Gesellschafts-Dystopie, bei der die Rückkehr des Stasi-Staates nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit verlegt wird.
Ort der Handlung: Ein kafkaeskes Bürokraten-Gebilde
Die Erzählzeiten changieren zwischen 1989 und 2015. Diesmal ist nicht Christian Hoffmann der Protagonist, sondern sein Cousin Fabian. Handlungsort ist Treva, ein hanseatischer Stadtstaat und ein kafkaeskes Bürokraten-Gebilde. Fabian Hoffmann arbeitet für die "Tausendundeinenachtabteilung" an einer Chronik zum 25-jährigen Jubiläum der Wiedervereinigung. Die Trevische Nachrichtenagentur kontrolliert sämtliche Medien: Zeitungen, Rundfunk und Internet.
Ein Irrtum, meine Damen und Herren, wenn Sie glauben, daß auf den Flügeln der Nachricht auch schon die Wahrheit sitzt. Nachrichten können lügen, das ist trivial und nicht das, was ich meine. In diesem Flugzeug, das wir Nachricht nennen, sitzen ein paar hundert Passagiere, und nur manche von ihnen arbeiten für die Wahrheit, die anderen sind Touristen, die vom Urlaub träumen, Lobbyisten, die für die Firma unterwegs sind, die das Flugzeug baut, in dem sie sitzen, Geschäftsleute, die gar nicht mit Wahrheit, sondern mit Obst, Feuerwerkskörpern und Öl handeln, hauptsächlich aber mit Waffen und Kosmetik. Leseprobe
"Der Schlaf in den Uhren": Mal witzige, mal platte Anspielungen
Die "Wahrheit", so heißt auch eine Wochenzeitung. Eine andere heißt TRAZ. Tellkamp spielt, wie schon im "Turm", gern mit Anspielungen, die mal witzig, oft aber auch einfach platt sind. Gut, dass die Rückblenden auf die turbulente Zeit rund um den Mauerfall den größeren Raum des Romans einnehmen. Was damals auf den Straßen bei den Demonstrationen, bei den Versammlungen der Bürgerrechtlerinnen und der Schriftstellerkreise geschehen ist, schildert Tellkamp in filmreifen Sequenzen. Welch poetische Kraft in seiner Sprache steckt, schimmert immer wieder durch.
… als ob die Zeit verging, wenn Eisblumen an den Fenstern krochen und das Geräusch der in die Öfen geschüttenten Kohlen mich wach bleiben ließ, wenn die Gedanken, in den Sommern, den Totensommern der vergangenen Jahre, in den Zimmern strandeten, unruhig von Hell und Dunkel, wenn die Uhren Schlaf und im Schlaf Aufstehen befahlen, nimm deinen Platz ein in der Mühle, zieh im Kreis und leb dahin, dem Tod entgegen, so verkreiselten Jugend, Reife, Alter, so kamen und gingen die Tage im vierzigsten Jahr der Republik. Leseprobe
Uwe Tellkamp lässt die Aufbruchstimmung der Wendezeit aufleben
Der ganze Mut, die Hoffnung und Aufbruchstimmung, mit der allen Gefahren am Ende der DDR-Zeit getrotzt worden ist, lässt Tellkamp noch einmal literarisch aufleben, indem er Fabian Hoffmann mit seiner Mutter Anne unter die Demonstrierenden auf die Straße schickt, während andere aus der Familie eingesperrt waren.
Nach geltendem Recht waren Anne und ich nun Rädelsführer, mußten mit Verhaftung und Verurteilung rechnen. Ich wollte, daß es keine Gewalt mehr gab. Daß Christian freikam. Gerechtigkeit für Muriel und meine Eltern. Daß die Lügen aufhörten. Daß dieser Staat seine Bürger freiließ und nicht mehr als Eigentum betrachtete. Leseprobe
Ähnlichkeiten mit Angela Merkel
Aber dann springt er wieder ins Jahr 2015. Aus der bürgerbewegten Krankenschwester Anne Hoffmann ist inzwischen die Kanzlerin von Treva geworden mit. Verblüffende Ähnlichkeiten mit Angela Merkel sind sicher kein Zufall.
Außer im Sommerinterview bei Manz und der jährlichen Weihnachtsansprache trat Anne nicht mehr vor Fernsehkameras. Der Tannenbaum des Kanzleramts stellte keine Fragen. So wie Anne Hoffmann Regula Manz beobachtete, als mächtigste der Drei Schwestern vom Fernsehberg, beobachtete Regula Manz Anne Hoffmann, als mächtigste Politikerin von Treva, man kannte einander seit Jahren, der Aufstieg beider Frauen hatte etwa zur selben Zeit begonnen. Manz hatte Annes Weg, seitdem Anne Umweltministerin unter dem Mammut gewesen war, wohlwollend begleitet, Anne hatte über den Einfluß ihrer Partei in den Rundfunkgremien der Karriere der Manz hier und dort unter die Arme gegriffen, ein wechselseitiges Geben und Nehmen, wie es zwar üblich ist, aber nur selten offen eingestanden wird. Leseprobe
Er war es nie und wird es niemals sein
Es sind diese Passagen, die zeigen: Tellkamp verirrt sich in seinem eigenen Roman-Labyrinth. In die Logik einer die Öffentlichkeit beherrschenden Kontroll-Zentrale gehört dann auch der eigene Roman. Aus dieser Falle kommt Tellkamp nicht heraus. Die ihm angediente Rolle des Nationaldichters à la Thomas Mann hat ihm offenbar nicht behagt. Nun braucht er sich keine Sorgen mehr zu machen. Er war es nie und wird es niemals sein.
Der Schlaf in den Uhren
- Seitenzahl:
- 904 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Suhrkamp
- Veröffentlichungsdatum:
- 16. Mai 2022
- Bestellnummer:
- 978-3-518-43100-9
- Preis:
- 32 €