Tom Kristensens "Absturz": Moderner Klassiker aus Dänemark
Der Guggolz Verlag hat den Roman "Absturz" des Dänen Tom Kristensen veröffentlicht. Es ist eine Neuübersetzung von Ulrich Sonnenberg. Eine Reise durch die dunkle Seele der Kopenhagener Kulturszene der 1920er-Jahre.
Bei Monumentalromanen des 20. Jahrhundert denken wir an "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von Marcel Proust, Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" und natürlich an "Ulysses" von James Joyce. Dass aber zur gleichen Zeit auch in Dänemark ein moderner Klassiker entstand, ist weniger bekannt.
Raus aus der spießbürgerlichen Existenz
Der Verfall beginnt mit dem Seitenwechsel. Ole Jastrau, eigentlich Dichter, lässt sich als Literaturkritiker für die Kopenhagener Tageszeitung "Dagbladet" einspannen. Er lebt mit Frau und Kind in einer hübschen Wohnung und urteilt über die Werke seiner Kollegen. Leider kann er sich selbst kaum ertragen in dieser spießbürgerlichen Existenz. Die gesamte Kulturelite Kopenhagens steuert Ende der 1920er-Jahre in eine geistige Verarmung, so empfindet es Jastrau. Niemand hat eine Meinung. Scherzhaft wird ein neuer Weltkrieg herbeigesehnt. Eines Abends stehen Sanders, ein brennender Kommunist, und Steffensen, ein junger Dichter, vor Jastraus Tür. Ungebeten nisten sie sich bei ihm ein und triggern Zerstörungslust. Jastrau muss trinken.
Bereits jetzt, als er die Flasche im Arm hielt, spürte er eine blanke schimmernde Ruhe. Als wäre er plötzlich daheim, er, der sich überall fremd fühlte, zwischen den eigenen Möbeln, gegenüber dem eigenen Sohn, gegenüber… gegenüber seinem eigenen Schreiben. Leseprobe
Der vorsätzliche Absturz seines Helden
Auf 622 Seiten erzählt Tom Kristensen vom vorsätzlichen Absturz seines Helden. Er folgt ihm mal in gedrosseltem Tempo, dann wieder hastend durch alle Aggregatszustände seiner Trinkerexistenz: das Besoffenenglück mit den Gefährten in der "Bar des Artistes", der Verlust von Frau, Geld und Würde, die ewige Wiederkehr des ersten Glases. Mal ist der Kater schrecklich, Tageslicht und Nervenzittern, dann erfreut sich Jastrau wieder besonderer Sichtachsen.
Wenn sie sich vorbeugten und über die Schulter des Fahrers blickten, wurde die Allee zu einem Fernrohr. Hellgrün auf der Innenseite. Und weit, weit entfernt in dem runden Loch einige Häuser und ein gelber Straßenbahnwagen, der gerade vorbeifuhr.
Mit eigenartiger Freude arbeitet Jastrau daran, zu Grunde zu gehen. Weder Kunst noch Politik stellen reizvolle Erkenntnisse in Aussicht, und auch Jesus Christus, mit dem er im Rausch manchmal verwandt zu sein scheint, kann ihn nicht zu neuem Glauben bekehren. Jastrau schläft mit der Frau eines Freundes und kündigt seinen Job bei der Zeitung. Dabei wird er nicht zum traurigem Selbstmordkandidaten, sondern bewegt sich mit seinen Trinkgefährten durch eine Zwischenwelt, in der er mit seinen Gefühlen experimentiert.
Parallelen zur Biografie von Tom Kristensen
"Absturz" wurde 1930 bei Erscheinen als Schlüsselroman gelesen. Ole Jastraus Geschichte führt eng an der Biografie Tom Kristensens entlang. Was den Roman so besonders macht, ist aber nicht seine zeitgenössische Hellsichtigkeit, sondern die magische Praxis der Sätze. Anders als James Joyce oder Marcel Proust hat Tom Kristensen einen modernen Roman geschrieben, der allen offen steht. Die Dramaturgie ähnelt der Logik von Daily Soaps. Es ist, als würde Jastrau sich in einer Kulisse bewegen, die erst in dem Moment aufgebaut wird, in dem er sie betritt. Alle Begegnungen sind miteinander verknüpft und steuern stringent in Richtung Inferno. Aber jeder einzelne Satz Kristensens enthält die Essenz der Ruhelosigkeit der menschlichen Seele am Rande des Abgrunds. Rein und klar, als wäre nie ein Tropfen Alkohol im Spiel gewesen.
Dort oben war der Morgen erwacht, aber noch hatte er sich nicht auf die Erde gesenkt.
Die Steine dufteten.
Leseprobe
Absturz
- Seitenzahl:
- 655 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg
- Verlag:
- Guggolz
- Veröffentlichungsdatum:
- 13. Dezember 2023
- Bestellnummer:
- 978-3-945370-43-8
- Preis:
- 28 €