Salman Rushdies "Victory City": Ein Meisterwerk an Fabulierlust
In Salman Rushdies "Victory City“ geht es um eine fiktive Geschichte im alten Indien - in der viel Gegenwart steckt. Man sollte sich auf diese Fantasiereise einlassen, sie ist mehr als ein Märchen.
Diese Geschichte hat es nie gegeben. Sie existiert nur, weil wir sie lesen, ein Versepos, das nach Jahrhunderten zufällig in einem Tonkrug unter den Ruinen einer Stadt gefunden wurde. Der Erzähler trägt diese Geschichte nur weiter...
(...) in schlichterer Sprache nacherzählt von einem Autor, der weder Gelehrter ist noch Poet, nur jemand, der gern Fäden spinnt (...). Leseprobe
Die fantastische Lebensreise einer Prophetin und Aktivistin
Südindien im 14. Jahrhundert. Sie, von der die Verse stammen, heißt Pampa Kampana. Ihr Bericht beginnt mit einer traumatischen Erfahrung aus der Kindheit. Ihre eigene Mutter verbrennt sich bei lebendigem Leib, vor ihren Augen. Wie die Witwen anderer auch. Ein entsetzlicher Moment...
(...) wie ihre Mutter Radha Kampana sich sanft von ihrer Hand löste und langsam, aber mit unbeirrbarer Überzeugung voran ins Feuer der Toten schritt, ohne sich von ihrer Tochter auch nur zu verabschieden. Leseprobe
Und von da an entsteht in der Neunjährigen der Wunsch, es besser zu machen. Frauen brauchen mehr Rechte. Und eine mächtige Göttin wählt sie für ihre Sache aus. Damit beginnt die fantastische Lebensreise einer Prophetin, die ganze 247 Jahre alt wird, einer Einflüsterin und Schöpferin - und einer Aktivistin für Frauenrechte, für Diversität, für religiöse und sexuelle Toleranz.
Klimawandel, russischer Angriffskrieg, Internet: Salman Rushdie webt moderne Gedanken ein
Salman Rushdies vor Farben und Formen strotzender Roman ist ein Meisterwerk an Fabulierlust, an erzählerischer Vielfalt. Durch die doppelte Fiktion eines fiktiven Erzählers, seines archäologischen Fundes und der nacherzählten Verse erzeugt der Autor einen Schwingboden für die Fantasie. Denn seine Geschichte wirkt - bei allem Fantastischen - seltsam realistisch. Pampa Kampana wächst bei einem bigotten Mönch auf, der sie missbraucht. Als sie erwachsen ist, stehen zwei Kuhhirten vor der Mönchshöhle. Sie gibt ihnen Zaubersamen. Mit denen erschaffen die beiden, fast wie Romulus und Remus Rom, eine unfassbar schöne Stadt, Bisnaga genannt.
Und da wuchs die Wunderstadt vor ihrem erstaunten Blick heran, aus felsigem Grund keimten die steinernen Gebäude der Stadtmitte, der majestätische Königspalast und auch der erste große Tempel. Leseprobe
Man sollte sich auf diese Fantasiereise einlassen. Sie ist mehr als "Fantasy", mehr als ein Märchen. Denn Rushdie wäre nicht Rushdie, wenn er in diese Vision einer Stadt nicht radikal moderne Gedanken einweben würde. Man meint, den Klimawandel, den russischen Angriffskrieg, Terrorismus, selbst das Internet durch die Zeilen hindurch schimmern zu sehen. Bisnaga erblüht, Pampa Kampana, die alterslose Urmutter, flüstert den Bewohnern und Bewohnerinnen fiktive Erinnerungen ein. Bisnaga entsteht genau an dem Ort, wo sich ihre Mutter selbst verbrannte. Aus ihrem Trauma entsteht ein Traum von einer besseren Welt der Gleichberechtigung.
"Victory City": Großer Roman über das Werden und Vergehen menschlicher Ideen
Wie im Vorübergehen wird der Roman gespickt mit Martial Arts-Szenen vom Feinsten, mit Anleihen an die Mythen der Welt, Zauberwäldern wie in "Herr der Ringe", mit cooler Jugendsprache. Die Mischung funktioniert. Dynastien kommen und gehen. Pampa Kampanas Vision einer besseren Welt wird immer wieder angegriffen von ultrareligiösen Hardlinern und bedroht von der Trägheit und Eitelkeit der Stadtbevölkerung. Bisnaga ist eine Bühne für die Konflikte von heute. Bisnaga sind letztlich wir. So ist dieser große Roman einer über das Werden und Vergehen menschlicher Ideen.
Dass Salman Rushdies Auge 2022 nach einem islamistischen Mordanschlag erblindete, ist beinahe prophetisch, denn: Auch Pampa Kampana wird am Ende ihrer eigenen Verse geblendet. Keine Niederlage, sondern ein Sieg, über die Intoleranz: "Victory City".
Victory City
- Seitenzahl:
- 416 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Englischen von Bernhard Robben
- Verlag:
- Penguin
- Bestellnummer:
- 978-3-328-60294-1
- Preis:
- 26 €